Kinder wachsen in Müll und Urin auf
Es gibt zu wenig zu essen, und es fehlt ein Schlafplatz. Nachbarn alarmieren die Polizei, die Eltern sind nun verurteilt
Ein Ehepaar vernachlässigt die fünf Buben und Mädchen. Jetzt wurden die Eltern vom Schöffengericht verurteilt.
Schwabmünchen Zwei kleine Kinder stehen auf dem Sims des weit geöffneten Fensters. Sie schmeißen ihr Spielzeug vom ersten Stock des Gebäudes nach draußen. Die Eltern sind nirgends zu sehen, aber eine aufmerksame Nachbarin entdeckt von der Straße aus die gefährliche Situation. Sie ruft nicht nach den Kindern, aus Angst, dass sie sonst vor Schreck in die Tiefe stürzen. Sie eilt zur Haustür, klingelt – doch niemand öffnet ihr. Sie und ihr Mann rufen die Polizei. Die Beamtin klettert mit dem Nachbarn über eine Leiter in das Kinderzimmer – was sie dort zu Gesicht bekommen, ist schockierend.
In dem Zimmer liegt überall Müll, Dreck, Katzenkot. Die Polizistin bezeichnet den Gestank bei der Verhandlung am Augsburger Schöffengericht als unerträglich. Ein beißender Uringeruch hängt in der Luft. Die Matratzen sind durchnässt, die Möbelstücke kaputt. Die Schuhe klebten bei jedem Schritt auf dem zugemüllten Boden, erinnert sich die Beamtin. Die beiden Kinder waren laut ihrer Aussage völlig verdreckt. Sie und der Nachbar möchten in der Wohnung nach den Eltern suchen, doch die Türe im Kinderzimmer ist abgesperrt. Sie öffnen sie mit dem mitgebrachten Werkzeug, laufen auf den ebenfalls vermüllten Gang und hören hinter einer Tür ein Wimmern – weitere Kinder. Auch diese Tür ist abgesperrt, und sie treten sie ein. Und tatsächlich – zwei weitere, völlig vernachlässigte Kinder sind dort. Die älteste Tochter, gerade mal acht Jahre alt, zeigt der Polizei das Schlafzimmer der Eltern – und sagt ihnen, dass ihr jüngster, wenige Monate alter Bruder dort zusammen mit Mama und Papa sei.
Die Helfer treten auch diese abgesperrte Tür ein. Im Bett liegen die 29-jährige Mutter, der 36-jährige Vater und ihr jüngster Sohn. Sie bekamen von dem Einsatz bis dahin nichts mit. „Wir haben tief geschlafen“, sagt die Mutter vor Gericht aus. Die 29-Jährige habe nach Ausreden gesucht, während der Mann sich ertappt fühlte, so die Polizistin vor Gericht. Das Jugendamt wurde von der Polizei informiert, bis zu deren Eintreffen nahmen die aufmerksamen Nachbarn die drei ältesten Kinder zu sich nach Hause. Als die junge Frau vor Gericht den schrecklichen Zustand der Mädchen und des Jungen beschreibt, laufen ihr Tränen übers Gesicht.
Sie spricht von verfilzten und dreckigen Haaren, einem wahnsinnigen Gestank, von Urin durchtränkten Hosen und Socken sowie Kot an der Kleidung. Sie habe die zwei jüngeren, vier und fünf Jahre alten Kinder dann gewickelt, eine Jogginghose von sich genommen, diese abgeschnitten und ihnen angezogen. „Damit sie wenigstens eine trockene Hose haben“, sagt die Frau. Außerdem gab sie ihnen Frühstück und machte der Vierjährigen ein frisches Pflaster auf den Fuß. Das Mädchen hatte sich zuvor in der elterlichen Wohnung eine blutende Schnittwunde zugezogen, als sie auf am Zimmerboden liegende Glasscherben trat.
Die fünf Kinder – drei Buben und zwei Mädchen – wurden direkt nach dem Polizeieinsatz im April dieses Jahres in das Augsburger Klinikum gebracht. Sie waren verlaust und in ihrer körperlichen sowie sprachlichen Entwicklung verzögert. Ein Mädchen leidet zudem unter massiven Angststörungen.
Bei der Verhandlung werden weitere Details aus dem Leben der Großfamilie genannt. So hatte einer der Buben nicht einmal eine eigene Matratze; er musste auf einem zerrissenen und ebenfalls von Urin durchtränkten Sessel schlafen. Die achtjährige Tochter versuchte, sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern. Bei der Verhandlung kommt zur Sprache, dass sie einmal getrocknete Nudeln durch das Schlüsselloch in das abgesperrte Zimmer ihrer Geschwister schob, damit diese etwas zu essen hatten.
Warum die Eltern so gehandelt haben? Sie seien überfordert gewesen und wussten nicht, dass sie ihre Kinder psychisch und seelisch so kaputt machen. Richter Dominik Wagner verurteilt das Ehepaar unter anderem wegen Freiheitsberaubung und fahrlässiger Körperverletzung zu je 20 Monaten auf Bewährung. Vier Jahre lang müssen sie zusätzlich je zehn Stunden gemeinnützige Arbeit pro Monat leisten, damit sie daran erinnert werden, was sie ihren Kindern angetan haben. Die Kinder leben seit April in Jugendheimen und Pflegefamilien.
Essen wird durch das Schlüsselloch geschoben