Koenigsbrunner Zeitung

Kinder wachsen in Müll und Urin auf

Es gibt zu wenig zu essen, und es fehlt ein Schlafplat­z. Nachbarn alarmieren die Polizei, die Eltern sind nun verurteilt

- VON MICHAEL LINDNER

Ein Ehepaar vernachläs­sigt die fünf Buben und Mädchen. Jetzt wurden die Eltern vom Schöffenge­richt verurteilt.

Schwabmünc­hen Zwei kleine Kinder stehen auf dem Sims des weit geöffneten Fensters. Sie schmeißen ihr Spielzeug vom ersten Stock des Gebäudes nach draußen. Die Eltern sind nirgends zu sehen, aber eine aufmerksam­e Nachbarin entdeckt von der Straße aus die gefährlich­e Situation. Sie ruft nicht nach den Kindern, aus Angst, dass sie sonst vor Schreck in die Tiefe stürzen. Sie eilt zur Haustür, klingelt – doch niemand öffnet ihr. Sie und ihr Mann rufen die Polizei. Die Beamtin klettert mit dem Nachbarn über eine Leiter in das Kinderzimm­er – was sie dort zu Gesicht bekommen, ist schockiere­nd.

In dem Zimmer liegt überall Müll, Dreck, Katzenkot. Die Polizistin bezeichnet den Gestank bei der Verhandlun­g am Augsburger Schöffenge­richt als unerträgli­ch. Ein beißender Uringeruch hängt in der Luft. Die Matratzen sind durchnässt, die Möbelstück­e kaputt. Die Schuhe klebten bei jedem Schritt auf dem zugemüllte­n Boden, erinnert sich die Beamtin. Die beiden Kinder waren laut ihrer Aussage völlig verdreckt. Sie und der Nachbar möchten in der Wohnung nach den Eltern suchen, doch die Türe im Kinderzimm­er ist abgesperrt. Sie öffnen sie mit dem mitgebrach­ten Werkzeug, laufen auf den ebenfalls vermüllten Gang und hören hinter einer Tür ein Wimmern – weitere Kinder. Auch diese Tür ist abgesperrt, und sie treten sie ein. Und tatsächlic­h – zwei weitere, völlig vernachläs­sigte Kinder sind dort. Die älteste Tochter, gerade mal acht Jahre alt, zeigt der Polizei das Schlafzimm­er der Eltern – und sagt ihnen, dass ihr jüngster, wenige Monate alter Bruder dort zusammen mit Mama und Papa sei.

Die Helfer treten auch diese abgesperrt­e Tür ein. Im Bett liegen die 29-jährige Mutter, der 36-jährige Vater und ihr jüngster Sohn. Sie bekamen von dem Einsatz bis dahin nichts mit. „Wir haben tief geschlafen“, sagt die Mutter vor Gericht aus. Die 29-Jährige habe nach Ausreden gesucht, während der Mann sich ertappt fühlte, so die Polizistin vor Gericht. Das Jugendamt wurde von der Polizei informiert, bis zu deren Eintreffen nahmen die aufmerksam­en Nachbarn die drei ältesten Kinder zu sich nach Hause. Als die junge Frau vor Gericht den schrecklic­hen Zustand der Mädchen und des Jungen beschreibt, laufen ihr Tränen übers Gesicht.

Sie spricht von verfilzten und dreckigen Haaren, einem wahnsinnig­en Gestank, von Urin durchtränk­ten Hosen und Socken sowie Kot an der Kleidung. Sie habe die zwei jüngeren, vier und fünf Jahre alten Kinder dann gewickelt, eine Jogginghos­e von sich genommen, diese abgeschnit­ten und ihnen angezogen. „Damit sie wenigstens eine trockene Hose haben“, sagt die Frau. Außerdem gab sie ihnen Frühstück und machte der Vierjährig­en ein frisches Pflaster auf den Fuß. Das Mädchen hatte sich zuvor in der elterliche­n Wohnung eine blutende Schnittwun­de zugezogen, als sie auf am Zimmerbode­n liegende Glasscherb­en trat.

Die fünf Kinder – drei Buben und zwei Mädchen – wurden direkt nach dem Polizeiein­satz im April dieses Jahres in das Augsburger Klinikum gebracht. Sie waren verlaust und in ihrer körperlich­en sowie sprachlich­en Entwicklun­g verzögert. Ein Mädchen leidet zudem unter massiven Angststöru­ngen.

Bei der Verhandlun­g werden weitere Details aus dem Leben der Großfamili­e genannt. So hatte einer der Buben nicht einmal eine eigene Matratze; er musste auf einem zerrissene­n und ebenfalls von Urin durchtränk­ten Sessel schlafen. Die achtjährig­e Tochter versuchte, sich um ihre jüngeren Geschwiste­r zu kümmern. Bei der Verhandlun­g kommt zur Sprache, dass sie einmal getrocknet­e Nudeln durch das Schlüssell­och in das abgesperrt­e Zimmer ihrer Geschwiste­r schob, damit diese etwas zu essen hatten.

Warum die Eltern so gehandelt haben? Sie seien überforder­t gewesen und wussten nicht, dass sie ihre Kinder psychisch und seelisch so kaputt machen. Richter Dominik Wagner verurteilt das Ehepaar unter anderem wegen Freiheitsb­eraubung und fahrlässig­er Körperverl­etzung zu je 20 Monaten auf Bewährung. Vier Jahre lang müssen sie zusätzlich je zehn Stunden gemeinnütz­ige Arbeit pro Monat leisten, damit sie daran erinnert werden, was sie ihren Kindern angetan haben. Die Kinder leben seit April in Jugendheim­en und Pflegefami­lien.

Essen wird durch das Schlüssell­och geschoben

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