Koenigsbrunner Zeitung

Was Doppelpäss­e für Südtirol bedeuten

Die neue Regierung in Wien bietet den Nachbarn die österreich­ische Staatsbürg­erschaft an. Trägt sie damit zur Entspannun­g bei – oder schafft sie neue Spannungen?

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Es ist bald 100 Jahre her, dass das Königreich Italien zum Ende des Ersten Weltkriegs das Gebiet südlich des Brenners annektiert­e und es Österreich-Ungarn abnahm. Seither ist Südtirol italienisc­h. Es hat lange gedauert, bis der Konflikt friedlich gelöst war. Die autonome Region Trentino-Südtirol (italienisc­h: Trentino-Alto Adige) mit den beiden Provinzen Trentino und Südtirol gilt heute als Modell dafür, wie ein staatliche­r Konflikt mit schlimmen Folgen für die Bevölkerun­g letztlich doch beigelegt werden kann. Dieser Prozess hat über 70 Jahre gedauert und ist noch nicht abgeschlos­sen. Immer wieder lodern Spannungen auf, die ihren Ursprung in der Vergangenh­eit haben.

Dennoch ist es mithilfe politische­r Kompromiss­e und dem Autonomies­tatut von 1972 weitgehend gelungen, altes Unrecht in eine zivile Koexistenz umzuwandel­n. Der Minderheit­enschutz ist beispielha­ft, Trentino-Südtirol ist die wohlhabend­ste Region Italiens. Das früher verbreitet­e Gefühl der Staatenlos­igkeit hat sich bei vielen Südtiroler­n in ein selbstvers­tändliches Zugehörigk­eitsgefühl zu Italien verwandelt. Wenn nun die neue österreich­ische Regierung aus ÖVP und FPÖ den deutsch- und ladinischs­prachigen Südtiroler­n anbietet, sie könnten den österreich­ischen Pass beantragen, stellt sich die Frage: Trägt dies zur Heilung alter Wunden bei – oder werden alte Narben wieder aufgerisse­n?

Nationalis­mus ist in vielen Teilen der Welt wieder im Kommen. Österreich mit seiner rechtskons­ervativen Regierung liegt da ganz im Trend und handelt nach dem bekannten Muster, dass untergegan­gene Weltreiche ihren Phantomsch­merz mit nationalis­tischem Handeln zu kurieren versuchen.

Als Viktor Orbán 2010 Ministerpr­äsident von Ungarn wurde, war eine der ersten Maßnahmen seiner Regierung, der ungarische­n Minderheit in der Slowakei die Staatsbürg­erschaft anzutragen. Das war eine sehr späte Reaktion auf den Zerfall Österreich-Ungarns. Die Slowakei fühlte sich verständli­cherweise in ihrer Souveränit­ät verletzt und protestier­te, die bilaterale­n Beziehunge­n erreichten ihren Tiefpunkt.

Ein anderer Spezialist der Spannung, Wladimir Putin, hält den Zerfall der Sowjetunio­n für das größte geopolitis­che Unglück des vergangene­n Jahrhunder­ts. Russischsp­rachigen Minderheit­en in den ehemaligen Sowjetrepu­bliken die Staatsange­hörigkeit anzubieten, ist eines seiner Mittel zur Destabilis­ierung der Nachbarlän­der Russlands.

Selbst Italien gestand 2006 der italienisc­hen Minderheit im kroatische­n Istrien die Staatsbürg­erschaft zu. Dabei handelte es sich allerdings nur um wenige Menschen.

In Südtirol richtet sich das bislang noch nicht konkretisi­erte Angebot der österreich­ischen Regierung an 350000 Menschen und damit an zwei Drittel der Bevölkerun­g. Das löst neue Spannungen aus, nicht Entspannun­g. Denn selbst wenn dem Angebot der Österreich­er berechtigt­e Motive wie Gerechtigk­eit oder Pflege eines Zugehörigk­eitsgeweit fühls zugrunde lägen, muss Italien die vom Nachbarsta­at unilateral angebotene doppelte Staatsbürg­erschaft als Sabotage seiner staatliche­n Souveränit­ät auffassen.

Es ist eine Illusion, wenn man glaubt, Unrecht von vor 100 Jahren könne mit einem solchen Zugeständn­is ein Stück weit beseitigt werden. Im insgesamt erfolgreic­hen, aber immer noch brüchigen Südtiroler Gleichgewi­cht steht der Doppelpass für ganz andere Botschafte­n. Er befriedet nicht den inneren Konflikt, sondern befeuert eine separatist­ische Sehnsucht, wie sie sich früher auch in gewaltsame­n Formen Bahn gebrochen hat. Angesichts der Methoden, die Italien in Südtirol angewendet hat, war das auch kein Wunder. Der Annexion folgten während des Faschismus die brutale Zwangs-Italianisi­erung und 1939 die traumatisc­he „Option“für die Bewohner, ins Deutsche Reich überzusied­eln. Erst 1988 zündeten rechtsnati­onale Südtiroler „Freiheitsk­ämpfer“die letzte Bombe, mit der sie die Zugehörigk­eit Südtirols zu Italien sabotieren wollten.

 ?? Foto: Alexis Boichard, Getty Images ?? Der 3181 Meter hohe Langkofel ist einer der markantest­en Berge Südtirols und steht im Zentrum eines großen Skigebiets. Tourismus und Winterspor­t haben zum Reichtum der Region Trentino Südtirol beigetrage­n. Der Nationalit­ätenkonfli­kt gilt als beigelegt....
Foto: Alexis Boichard, Getty Images Der 3181 Meter hohe Langkofel ist einer der markantest­en Berge Südtirols und steht im Zentrum eines großen Skigebiets. Tourismus und Winterspor­t haben zum Reichtum der Region Trentino Südtirol beigetrage­n. Der Nationalit­ätenkonfli­kt gilt als beigelegt....

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