Warum immer mehr Kinder ins Heim kommen
Seit Jahren steigt die Zahl. Die Jugendamtsleiterin sagt: Eltern und Kinder sind oft psychisch krank. Doch auch Armut und vor allem fehlende Wohnungen können für Familien zur Zerreißprobe werden. Was helfen kann
Seit Jahren steigt die Zahl. Die Jugendamtsleiterin sagt: Eltern und Kinder sind oft psychisch krank. Was helfen kann.
Landkreis Augsburg Es müssen erschütternde Bilder gewesen sein, die die Polizeibeamten vor einem dreiviertel Jahr in einer Wohnung in Schwabmünchen zu Gesicht bekamen: In den Zimmern stank es nach Urin und Kot, überall lag Müll und in zwei Kinderzimmern waren vier völlig verwahrloste Kinder eingeschlossen, ein weiteres Kind schlief mit seinen Eltern im Schlafzimmer. Die drei Buben und zwei Mädchen wurden sofort ins Krankenhaus gebracht. Deren verfilzte Haare waren voller Läuse, die Kinder waren in ihrer Entwicklung zurückgeblieben, ein Mädchen litt unter Angststörungen, stellten die Ärzte fest. Inzwischen sind die Eltern zu einer Bewährungsstrafe verurteilt (wir berichteten), die Kinder leben heute in Heimen, eines ist bei einer Pflegefamilie untergebracht, berichtete die Leiterin des Amts für Jugend und Familie Christine Hagen jetzt im Jugendhilfeausschuss.
Die Kinder der Familie sind fünf der insgesamt 16 Fälle im Landkreis Augsburg, in denen Mädchen und Buben wegen Kindswohlgefähr- dung aus der eigenen Familie in Obhut genommen wurden. Noch vier Jahre zuvor hatte es im Landkreis nur drei solcher Fälle gegeben, seitdem steigt diese Zahl. Das ist nicht nur im Landkreis so, sagt Christine Hagen, ähnliche Tendenzen gibt es in ganz Deutschland. Und nicht nur diese Zahl steigt, so die Jugendamtsleiterin. Seit einigen Jahren wächst die Zahl von Kindern im Kreis allgemein, die in Heimen untergebracht werden.
Warum das so sei, wollte jetzt unter anderem die Fraktion der Grünen im Landkreis wissen. Den typischen Fall gibt es aber gar nicht, sagt Christine Hagen, jeder sei anders. Dennoch gibt es Gründe, warum die Zahl von Kindern steigt, die nicht mehr in ihrer Familie leben können. Signifikant, so die Leiterin des Jugendamts weiter, ist die Zunahme von Fällen von psychischen Erkrankungen oder Störungen bei den Eltern, manchmal sind auch die Jugendlichen selbst betroffen. Deren Erkrankung kann sogar eine Folge der Umstände in der Familie sein. Zu dieser Erkenntnis passt auch, dass immer mehr Kinder und Jugendliche selbst in den geschlosse- nen Abteilungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht werden und anschließend, auf ärztlichen Rat, im Kinderheim leben sollen. Oft genug seien es auch hochstrittige Trennungskonflikte, die ganze Familiensysteme zerrütteten.
Und dann zählt die Jugendamtsleiterin noch eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Gründen auf, die das Leben einiger Familien schwierig machen. Armut ganz allgemein, dazu ein sinkendes Bildungsniveau in den ohnehin schon belasteten Familien, fehlende Kompetenz für Erziehung, kein Rückhalt im eigenen Familienverband und eine steigende Zahl von Fällen, in denen Familien ihre Wohnungen verloren haben und keine neue finden, stehen hinter der steigenden Zahl von Kindern, die inzwischen in Heimen leben.
Und diese Kinder werden selbst auch immer kränker. „Immer mehr Kinder leiden schon als Acht- oder Neunjährige an einem Borderlinesyndrom oder sind schwer depressiv“, berichtet Christine Hagen. Sie fasst zusammen: „Die allermeisten stammen aus sozial und finanziell schlechter gestellten Familien.“Auch wenn gerade in Kindertagesstätten inzwischen sehr gut darauf geschaut werde, wie es den Kindern gehe, ist Christine Hagen überzeugt, dass eigentlich noch mehr Kinder in schlimmen Verhältnissen leben, als in den Einrichtungen des Landkreises erfasst wird.
Angesichts dieser Entwicklung ist für den Vorsitzenden der SPD im Landkreis, Florian Kubsch, klar: „Wir brauchen eine Umkehr.“Denn obwohl im Landkreis quasi Vollbeschäftigung herrsche, stiegen auf der anderen Seite die Ausgaben für Soziales. „Haben wir uns unseren Wohlstand da mit etwas erkauft?“, so seine selbstkritische Frage.
Was helfen könnte, die Situation möglicherweise betroffener Kinder und Jugendlicher zu verbessern, sind eine effektivere Armutsbekämpfung, bessere Bildungschancen für Kinder aus Familien im sozialen Abseits und vor allem ausreichend passender Wohnraum – auch wenn für diese Dinge nicht unbedingt der Landkreis zuständig sei, so Hagen. Doch auch dort will man noch besser werden. Demnächst soll den Kindern von psychisch kranken Eltern noch besser geholfen werden. An dem Projekt wird bereits gearbeitet.