Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (77)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Unterwegs hatte das Auto Schwierigkeiten gemacht, und wir trafen mit einer Stunde Verspätung zu Tommys Tests ein. Dann hatte Tommy wegen einer Verwechslung in der Klinik drei Tests wiederholen müssen. Davon wurde ihm leicht schwindelig, und als wir uns schließlich am späten Nachmittag auf den Weg nach Littlehampton machten, war er so benommen, dass ihm während der Autofahrt schlecht wurde. Wir mussten immer wieder stehen bleiben, damit er ein paar Schritte gehen konnte.
Kurz vor sechs Uhr waren wir endlich in Littlehampton. Wir stellten das Auto hinter der Bingo-Halle ab, holten die Sporttasche mit Tommys Heften aus dem Kofferraum und gingen in Richtung Innenstadt. Es war ein sonniger Tag gewesen, und obwohl die Geschäfte alle schon schlossen, standen eine Menge Leute vor den Pubs auf der Straße herum, tranken und plauderten. Je länger wir unterwegs waren, desto besser erholte sich Tommy, bis ihm
schließlich einfiel, dass er wegen der Tests das Mittagessen hatte ausfallen lassen, und er erklärte, er müsse erst etwas essen, um sich für das Bevorstehende zu wappnen. Wir machten uns also auf die Suche nach einem Sandwich-Stand, als er mich plötzlich am Arm packte, so fest, dass ich schon fürchtete, er hätte einen Anfall. Aber er flüsterte mir ins Ohr:
„Da ist sie, Kath. Schau, dort geht sie an dem Friseurladen vorbei.“
Und tatsächlich, da war sie, auf dem Gehsteig gegenüber, in ihrem adretten grauen Kostüm, ihrer Standardkleidung seit jeher.
Wir hefteten uns an ihre Fersen und folgten ihr erst durch die Fußgängerzone, dann durch die nahezu menschenleere Hauptstraße, natürlich in gebührendem Abstand. Ich glaube, wir mussten beide daran denken, wie wir einmal Ruths „Möglicher“durch eine andere Stadt gefolgt waren. Diesmal erwies sich die Sache allerdings als wesent- lich einfacher, denn bald waren wir auf dieser langen Küstenstraße.
Da diese Straße schnurgerade verlief und von der tief stehenden Sonne bis ans andere Ende beleuchtet wurde, konnten wir Madame einen gehörigen Vorsprung lassen – bis sie beinahe nur noch ein Punkt am Horizont war –, ohne das Risiko einzugehen, sie aus den Augen zu verlieren. Tatsächlich hörten wir ständig das Echo ihrer Absätze, und das rhythmische Geräusch von Tommys Tasche, die im Gehen an sein Bein schlug, klang wie eine Antwort darauf.
Lange schritten wir so dahin, vorbei an einer endlosen Reihe immer gleicher Häuser. Dann war auf der anderen Straßenseite die Häuserzeile auf einmal zu Ende und wich flachem grasbewachsenem Gelände, und dahinter sah man die Dächer der Strandhäuschen, die sich entlang dem Ufer aneinander reihten. Das Meer selbst blieb unsichtbar, aber man erriet es – schon allein an der Weite des Himmels und dem Geschrei der Möwen.
Aber auf unserer Straßenseite stand auch hier noch Haus an Haus. Nach einer Weile sagte ich zu Tommy:
„Jetzt ist es nicht mehr weit. Siehst du die Bank dort? Da habe ich immer gesessen. Das Haus liegt direkt gegenüber.“
Bis zu diesem Zeitpunkt war Tommy ganz ruhig geblieben. Aber jetzt schien auf einmal etwas in ihn gefahren zu sein, denn er begann seine Schritte zu beschleunigen, als wollte er Madame einholen. Es befand sich aber niemand mehr zwischen ihr und uns, und als Tommy den Abstand immer weiter verringerte, musste ich ihn am Arm packen, um ihn zu bremsen. Die ganze Zeit hatte ich Angst, Madame könnte sich umdrehen und uns entdecken, was jedoch nicht geschah, und schließlich trat sie durch ihr kleines Gartentor. Vor der Haustür hielt sie inne, um in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel zu suchen, und dann hatten wir schon aufgeholt, standen vor ihrem Haus und beobachteten sie. Sie drehte sich noch immer nicht um, und ich hatte den Verdacht, dass sie uns schon längst bemerkt hatte und absichtlich ignorierte. Ich fürchtete auch, dass Tommy sie im nächsten Moment ansprechen und dann sicher die falschen Worte wählen würde. Daher rief ich ihr, ohne zu zögern, schnell vom Gartentor aus etwas zu.
Es war nur ein höfliches „Entschuldigung!“, aber sie fuhr herum, als hätte ich einen Gegenstand nach ihr geworfen. Und als ihr Blick auf uns fiel, überlief mich ein Schaudern wie damals, vor vielen Jahren, als wir ihr draußen vor dem Haupthaus aufgelauert hatten. Ihre Augen waren so kalt wie immer und ihre Miene vielleicht noch strenger, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich weiß nicht, ob sie uns bereits erkannt hatte; ohne Zweifel aber sah und begriff sie innerhalb einer Sekunde, was wir waren, denn sie erstarrte sichtlich – als sähe sie zwei riesige Spinnen auf sich zukriechen.
Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Er wurde nicht gerade herzlicher. Aber der Abscheu, den sie bei unserem Anblick empfand, verschwand irgendwohin, und sie musterte uns aufmerksam, wobei sie die Augen gegen das Licht der tief stehenden Sonne zusammenkniff.
„Madame“, sagte ich, über das niedrige Tor gebeugt. „Wir wollen Sie bestimmt nicht erschrecken. Aber wir waren in Hailsham. Ich bin Kathy H., vielleicht erinnern Sie sich. Und das ist Tommy D. Wir sind nicht hier, um Ihnen Ärger zu machen.“
Sie trat ein paar Schritte auf uns zu. „Aus Hailsham“, sagte sie, und tatsächlich huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. „Das ist aber eine Überraschung. Wenn Sie nicht hier sind, um mir Ärger zu bereiten, warum dann?“
„Wir müssen mit Ihnen reden“, antwortete Tommy. „Wir haben etwas mitgebracht“– er hob seine Tasche –, „ein paar Sachen, die Sie vielleicht für Ihre Galerie brauchen können. Wir müssen unbedingt mit Ihnen sprechen.“
Madame stand einfach nur da in der Abendsonne und rührte sich kaum, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als lauschte sie auf ein Geräusch vom Meer. Dann lächelte sie wieder, obwohl dieses Lächeln nicht uns zu gelten schien, sondern ihr selbst.
„Na gut, schön. Kommen Sie herein. Dann werden wir sehen, worüber Sie zu reden wünschen.“
Beim Eintreten fiel mir auf, dass die Haustür farbige Glasscheiben hatte, und als Tommy die Tür hinter uns schloss, war es gleich ziemlich dunkel. Wir standen in einem Flur, der so eng war, dass man das Gefühl hatte, man bräuchte nur die Ellenbogen zu spreizen, um auf beiden Seiten an die Wände zu stoßen. Madame war vor uns stehen geblieben und verharrte reglos mit dem Rücken zu uns, und wieder war es, als lauschte sie. Ich spähte an ihr vorbei und sah, dass der Flur, so schmal er war, sich hinter ihr noch einmal teilte: Links ging eine Treppe nach oben, rechts führte ein noch engerer Durchgang in die Tiefe des Hauses hinein.
Madames Beispiel folgend lauschte ich ebenfalls, doch es war alles still. »78. Fortsetzung folgt