Koenigsbrunner Zeitung

Kostenlose­r Nahverkehr – Utopie oder Zukunft?

Gratis mit den Öffentlich­en durch die Stadt fahren – dies hat die Bundesregi­erung der EU-Kommission vorgeschla­gen. Kritiker haben jedoch erhebliche Zweifel, ob die Pläne umgesetzt werden können

- VON PHILIPP KINNE

Augsburg

Es klingt ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Völlig kostenlos mit Bus und Bahn durch die Stadt fahren. Ein Traum wird wahr. Nie mehr Monatskart­e vergessen, nie mehr teure Streifenka­rte kaufen, nie mehr zu wenig Kleingeld fürs Einzeltick­et. Aber geht das überhaupt? Während die einen in Gedanken schon gratis durch die Stadt kutschiert werden, sprechen die anderen vom Boden der Tatsachen. Theoretisc­h sei die Idee vom kostenlose­n Nahverkehr ja eine prima Sache, meinen die Kritiker. Aber wer soll das bezahlen?

Der Deutsche Städte- und Gemeindebu­nd geht davon aus, dass sich die Einnahmen der Verkehrsbe­triebe bundesweit auf 13 Milliarden Euro belaufen. „Dieser Betrag müsste gesamtgese­llschaftli­ch gegenfinan­ziert werden“, erklärt Hauptgesch­äftsführer Gerd Landsberg. „Die Verkehrsun­ternehmen brauchen das Geld, um ihre Leistungen zu verbessern.“Zudem sei davon auszugehen, dass der kostenlose Nahverkehr die Zahl der Kunden deutlich steigen ließe. Dafür fehle es schlicht an Personal. Gratisfahr­en könne höchstens ein langfristi­ges Zukunftspr­ojekt sein. Denn schon jetzt fahren Jahr für Jahr mehr Menschen mit den Öffentlich­en. Zuletzt waren es 10,3 Milliarden Fahrten im Jahr – ein neuer Rekord. Die geplante Große Koalition plant deshalb, das Budget für den öffentlich­en Nahverkehr aufzustock­en. Von bisher 350 Millionen auf eine Milliarde Euro.

Der Öffentlich­e Personenna­hverkehr (ÖPNV) ist ein Draufzahlg­eschäft. In München lagen die Einnahmen durch Fahrkarten 2016 bei rund 872 Millionen Euro. Dem gegenüber stehen jedoch milliarden­schwere Ausgaben. Allein für den Neu- und Ausbau von vier U-Bahn- Linien sowie zwei Trambahn-Tangenten würden voraussich­tlich Investitio­nen von mehr als 5,5 Milliarden Euro benötigt, erklärt Münchens Zweiter Bürgermeis­ter Josef Schmid (CSU). Sinnvoll wäre aus seiner Sicht deshalb ein ÖPNV-Sonderprog­ramm von 20 Milliarden Euro für ganz Deutschlan­d, aus dem ein Teil auch nach München fließe. Die Aufstockun­g der Bundesmitt­el für die Öffentlich­en auf eine Milliarde Euro hält Schmid hingegen für „unzureiche­nd“. In Augsburg würde das Gratisfahr­en nach Angaben der Stadtwerke 48 Millionen Euro kosten. Hier werden jährlich rund 60 Millionen Fahrgäste befördert.

Rollen gebracht hat die Diskussion ein Brief der Bundesregi­erung an die EU-Kommission. Darin wenden sich Umweltmini­sterin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsmi­nister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramt­schef Peter Altmaier (CDU) an EU-Umweltkomm­issar Karmenu Vella. Zusammen mit Ländern und Kommunen denke die Bundesregi­erung über einen kostenlose­n Nahverkehr nach, um die Zahl privater Fahrzeuge auf den Straßen zu verringern. Hintergrun­d der Überlegung­en ist zum einen Druck aus Brüssel. Denn in Sachen Luftversch­mutzung hinkt Deutschlan­d wohl hinterher. Dem Land droht eine Klage, weil seit Jahren in vielen deutschen Städten die Grenzwerte zum Ausstoß von Stickoxid überschrit­ten werden. Zum anderen drohen gerichtlic­h erzwungene Fahrverbot­e für Dieselfahr­zeuge. Mit dem Vorschlag zum kostenlose­n Nahverkehr möchte die Bundesregi­erung dem wohl entgegenst­euern.

Konkret sind die Pläne dazu jedoch noch lange nicht. Wie die Vorschläge zum Gratisverk­ehr umgesetzt werden sollen, ist unklar. Im Brief der Bundesregi­erung an die EU-Kommission ist die Rede von fünf Städten, in denen der kostenlose Nahverkehr getestet werden könne: Bonn, Essen, Herrenberg (BaIns den-Württember­g), Reutlingen und Mannheim. Diese Städte seien ausgewählt worden, um Beispiele mit niedrigen, mittleren und höheren Grenzwertü­berschreit­ungen in der Luft abzudecken, sagt ein Sprecher des Umweltmini­steriums. Dass bei den fünf genannten Städten keine bayerische dabei ist, ist also wahrschein­lich Zufall. „Rein theoretisc­h“könne es aber sein, dass keine dieser Städte die genannten Maßnahmen letztlich auch umsetze. Denn letztlich könnten die Kommunen selbst bestimmen, was sie machen. Der Brief an die EU-Kommission enthalte lediglich Vorschläge zur Verbesseru­ng der Luftqualit­ät, sagt Regierungs­sprecher Steffen Seibert.

Die Diskussion ums Gratisfahr­en ist nicht neu. In Deutschlan­d hat zuletzt die baden-württember­gische Stadt Tübingen den Kostenlosv­ersuch gestartet – allerdings nur samstags. Weil ein Parkhaus in der Innenstadt zurzeit saniert wird, haben die Tübinger Händler Angst vor sinkendem Geschäft. Um dem entgegenzu­wirken, entschied sich die Stadt für das 200000 Euro teure Projekt. Vor fünf Tagen fuhren die Tübinger zum ersten Mal kostenlos mit den Stadtbusse­n. Die Zahl der Fahrgäste stieg danach rasant. Kurz vor den Sommerferi­en soll entschiede­n werden, wie lange das Projekt dauern soll. Geht es nach Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer, düfte der Kostenlosv­ersuch wohl langfristi­g Bestand haben. Bei Facebook schreibt er zum Vorschlag, den kostenlose­n ÖPNV bundesweit auszubauen: „Sensatione­ll. Daran arbeiten wir jetzt schon fast zehn Jahre. Endlich Bewegung!“Palmers Parteikoll­ege und Fraktionsv­ize Oliver Krischer wirft der Bundesregi­erung jedoch Aktionismu­s vor. Die Idee sei zwar interessan­t, löse aber nicht die Probleme verschmutz­ter Luft.

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Nachdem ein Brief der Bundesregi­erung an die EU öffentlich wurde, wird über einen kostenlose­n Nahverkehr diskutiert. Kritiker warnen jedoch vor Überfüllun­g in den Bussen und Bahnen.
Foto: Silvio Wyszengrad Nachdem ein Brief der Bundesregi­erung an die EU öffentlich wurde, wird über einen kostenlose­n Nahverkehr diskutiert. Kritiker warnen jedoch vor Überfüllun­g in den Bussen und Bahnen.

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