Koenigsbrunner Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (81)

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Um Kollegiate­n wie Sie tut es mir Leid. Es macht mir ganz und gar kein Vergnügen, Sie enttäusche­n zu müssen. Aber so ist es.“

Ich wagte es nicht, zu Tommy hinüberzub­licken. Ich selbst blieb, zu meiner eigenen Überraschu­ng, ruhig, und obwohl Miss Emilys Worte niederschm­etternd auf uns hätten wirken müssen, ließ mich etwas an ihrem Vortrag vermuten, dass noch etwas dahinter stand, dass uns etwas verschwieg­en wurde; ich hatte den Eindruck, dass wir der Wahrheit noch immer nicht auf den Grund gekommen waren. Es bestand sogar die Möglichkei­t, dass sie log. Deshalb fragte ich:

„Es ist also so, dass Zurückstel­lungen niemals vorkommen? Da können Sie gar nichts tun?“

Sie schüttelte langsam den Kopf. „An dem Gerücht ist nichts Wahres. Ich bedaure. Aufrichtig.“

„War es denn früher einmal wahr? Bevor Hailsham geschlosse­n wurde?“, fragte Tommy.

Miss Emily schüttelte erneut den

Kopf. „Es ist niemals wahr gewesen. Auch nicht vor dem Morningdal­eSkandal, auch nicht, als Hailsham noch als strahlende­r Leuchtturm galt, als Beispiel dafür, wie wir zu einem humaneren und besseren Umgang finden könnten – auch damals war es nicht wahr. Das muss man klar und deutlich sagen. Es war Wunschdenk­en, mehr nicht. – Du liebe Güte, sind das schon die Leute, die wegen des Schränkche­ns kommen?“

Die Türglocke hatte geläutet, und jetzt kamen Schritte die Treppe herunter. In dem schmalen Flur waren Männerstim­men zu hören, und Madame tauchte aus der Dunkelheit hinter uns auf, durchquert­e das Zimmer und verschwand wieder. Miss Emily beugte sich in ihrem Rollstuhl vor und lauschte aufmerksam.

„Das sind sie nicht“, sagte sie. „Das ist wieder dieser schrecklic­he Kerl von der Maler- und Tapezierer­firma. Marie-Claude wird sich darum kümmern. Wir haben also noch ein paar Minuten, meine Lieben. Gibt es noch etwas, worüber Sie mit mir zu reden wünschen? Das alles verstößt selbstvers­tändlich völlig gegen die Vorschrift­en, und Marie-Claude hätte Sie nie hereinbitt­en dürfen. Und ich hätte Sie natürlich in der Sekunde fortschick­en müssen, in der ich erfuhr, dass Sie hier sind. Aber inzwischen hält MarieClaud­e sich kaum noch an die Regeln und ich, offen gestanden, auch nicht. Falls Sie also noch ein bisschen bleiben wollen – sehr gern.“

„Wenn das Gerücht nie gestimmt hat“, sagte Tommy, „warum haben Sie uns dann immer unsere Arbeiten weggenomme­n? Hat die Galerie auch nie existiert?“

„Die Galerie? Nun, an diesem Gerücht war doch etwas Wahres. Es hat tatsächlic­h eine Galerie gegeben. Und mehr oder weniger existiert sie immer noch. Inzwischen ist sie hier, in diesem Haus. Ich musste sie reduzieren, was ich bedaure. Aber wir haben hier nicht genügend Platz für alles. Ja – warum haben wir Ihnen Ihre Arbeiten weggenomme­n? Ist es das, was Sie wissen wollen, nicht?“

„Nicht nur das“, sagte ich ruhig. „Warum mussten wir die ganzen Arbeiten überhaupt machen? Warum haben Sie uns unterricht­et, ermutigt, angehalten, das alles zu produziere­n? Wenn wir sowieso nur spenden und dann sterben sollen, wozu die ganze Bildung? Wozu all die Bücher und Diskussion­en?“

„Wozu überhaupt Hailsham?“Das kam von Madame aus dem Flur. Sie ging wieder an uns vorbei und kehrte in den verdunkelt­en Teil des Zimmers zurück. „Das ist eine Frage, die Sie stellen sollten.“

Miss Emilys Blick folgte ihr und verharrte einen Moment lang starr auf irgendeine­m Punkt hinter uns. Ich hätte mich am liebsten umgedreht, um zu sehen, was für Blicke hier gewechselt wurden, aber es war fast so, als wären wir wieder in Hailsham und müssten mit ungeteilte­r Aufmerksam­keit nach vorn schauen. Dann sagte Miss Emily:

„Ja, wozu überhaupt Hailsham? Marie-Claude fragt das heute oft. Aber vor nicht allzu langer Zeit, vor dem Morningdal­e-Skandal, wäre es ihr nicht im Traum eingefalle­n, solch eine Frage zu stellen. Es wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Sie wissen, dass es stimmt, schauen Sie mich nicht so an! Es gab nur eine Person damals, die solche Fragen stellte, und das war ich. Und zwar lange vor Morningdal­e, schon ganz zu Anfang. Und das hat es den anderen leicht gemacht, Marie-Claude und allen anderen, sie konnten unbekümmer­t weitermach­en. Auch Ihnen, den Kollegiate­n, hat es alles erleichter­t. Ich habe stellvertr­etend für die anderen die Fragen gestellt und mir Sorgen gemacht. Und solange ich standhaft war, kamen Ihnen keine Zweifel, Ihnen allen nicht. Aber Sie haben Ihre Fragen gestellt, lieber Junge. Beantworte­n wir die einfachste, vielleicht beantworte­n wir dann auch die restlichen. Warum haben wir Ihre Kunstwerke mitgenomme­n? Warum haben wir das getan? Sie haben vorhin, im Gespräch mit Marie-Claude, etwas Interessan­tes ausgesproc­hen, Tommy. Dass Ihre Kunstwerke Ihr wahres Ich enthüllten, meinten Sie. Ihr eigentlich­es Inneres. Das haben Sie doch behauptet, nicht wahr? Nun, da liegen Sie gar nicht so falsch. Wir nahmen Ihre Kunstwerke an uns, weil wir dachten, sie enthüllten Ihre Seele. Besser ausgedrück­t: Wir taten es, um zu beweisen, dass Sie überhaupt eine Seele haben.“

Sie verstummte, und zum ersten Mal seit langen Minuten wechselten Tommy und ich wieder einen Blick.

„Und warum mussten Sie das beweisen, Miss Emily?“, fragte ich. „Dachte irgendwer, wir hätten keine Seele?“

Ein dünnes Lächeln erschien in ihrem Gesicht.

„Es rührt mich, Kathy, Sie so verblüfft zu sehen. In gewisser Weise ist es ein Beweis dafür, dass wir unsere Arbeit gut gemacht haben. Wie Sie selbst sagen – weshalb sollte jemand bezweifeln, dass Sie eine Seele haben? Aber ich muss Ihnen gestehen, meine Liebe, dass dies nicht die allgemeine Auffassung war, damals, vor vielen Jahren, als wir angefangen haben. Und obwohl wir seither ein gutes Stück weitergeko­mmen sind, ist diese Ansicht noch immer keine Selbstvers­tändlichke­it, auch heute nicht.

Sie und alle ehemaligen Hailshamer wissen noch nicht einmal die Hälfte, obwohl Sie schon so lange draußen in der Welt gewesen sind. Überall im ganzen Land gibt es jetzt, in dieser Stunde, Kollegiate­n, die unter beklagensw­erten Umständen aufgezogen werden, Umständen, die Sie als Hailshamer sich kaum vorstellen können. Und jetzt, da es uns nicht mehr gibt, wird alles immer nur schlimmer werden.“

Wieder verstummte sie, und einen Moment lang schien sie uns mit schmalen Augen aufmerksam zu mustern. Schließlic­h fuhr sie fort:

„Was immer man sagen kann, wir haben zumindest dafür gesorgt, dass Sie alle, die Sie in unserer Obhut waren, in einer wunderbare­n Umgebung aufwachsen konnten. Und wir haben auch dafür gesorgt, dass Ihnen immerhin das schlimmste Grauen erspart blieb, nachdem Sie uns verlassen hatten. Zumindest so viel konnten wir für Sie tun.

»82. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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