Die Frage der Woche Mitleid mit Schulz?
Ja. Mitleid mit Schulz.
Schulz ist ein Gescheiterter, ein Gefallener und Fallengelassener. Dienstag hatte er Tränen in den Augen, als er auch vom SPD-Parteivorsitz zurücktrat. Der Hoffnungsträger, der 100-Prozent-Messias der SPD, der verhinderte Oppositionsführer und Beinahe-Außenminister hat alles verloren. Kein tragischer Held. Aber ein getroffener, erschütterter, von allem trügerischen Blendwerk entblößter Mensch.
Ja. Mitleid mit Schulz. Empathie für diesen seltsam naiven Mann, der etwas ungelenk Emotionales hat, ist nicht gleichbedeutend mit politischem Einverständnis. Sein Scheitern hat Martin Schulz zweifellos selbst herbeigeführt, zumindest maßgeblich mitverschuldet. Darum geht es aber nicht. Es geht auch nicht um ein Beklagen des ach so gnadenlosen Politikbetriebs. Haifischbecken Berlin? Schulz wollte mitschwimmen – jetzt darf er sich nicht beklagen, dass die Genossen Piranhas ihn zerkrümelt haben. Vielleicht bin ich, zum Beispiel, wehrlos gegen das Gefühl des Mitleids für diesen Mann aus Würselen, weil er nicht glatt rasiert ist und seine Glatze als Glatze trägt, weil Schulz kein Scholz ist. Weil in Erinnerung geblieben ist, wie Schulz, als er vor einem Jahr angeleuchtet war wie ein Heiligenbild, über Bücher und das Lesen sprach, sein Tagebuchschreiben, seinen überwundenen Alkoholismus. Diese Singsang-Stimme, die bricht, ohne leiser zu werden, wenn es emotional wird.
Schulz hat seinen Sturz und seine Selbstzerstörung mit Würde moderiert. Er hat in einer Partei, von der man nicht mehr so sicher weiß, was sie besser könnte, Opposition oder Opportunismus, nicht glücklich agiert. Aber er hat im Untergang eine bessere Figur gemacht als viele, mit denen ich einmal weniger Mitleid haben werde.
Geteiltes Leid ist halbes Leid. So ungefähr lässt sich die Bedeutung von Mitleid für unser Zusammenleben erklären. Ein Mensch, der schicksalhaft in eine Notsituation gerät, kann darauf hoffen, dass andere ihm zumindest wohlwollend begegnen oder ihm zur Seite stehen. Schließlich könnte es jedem von uns schon am nächsten Tag genauso ergehen. Damit ist die Frage, ob man mit Martin Schulz Mitleid haben sollte, ziemlich klar beantwortet.
Der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat und -Parteichef wollte auch einmal am eigenen
Leib den Hauch der Geschichte spüren. Dass er sich dafür ein viel zu luftiges Mäntelchen umgehangen hat, ist keine schicksalhafte Begebenheit. Der Aufstieg und Fall des Martin Schulz taugt aber als Untersuchungsobjekt für Psychologen und Sozialwissenschaftler: zu seinem Beginn als Beispiel einer kollektiven Selbstüberschätzungsspirale; zu seinem Ende als besonders krasses Beispiel für das Auseinanderklaffen von Eigen- und Fremdwahrnehmung.
Wenn man überhaupt jemals mit dem Politiker Martin Schulz Mitleid haben konnte, dann zu dem Zeitpunkt, als er die Spitzenkandidatur übernommen hatte, und ihm irgendwann klar geworden war, auf was für einem Himmelfahrtskommando er da war. Die sogenannten Parteifreunde warfen ihm einen Stein nach dem anderen in den Weg. Und er saß auf dem immer schneller fahrenden Zug, sah die große Mauer, an der alles zerschellen würde, aber konnte nicht mehr abspringen. Das war eine wirkliche Drama-Konstellation. Eine schicksalhafte Verwicklung, die der Held nicht unbeschadet überstehen konnte. Nach allem, was seit dem Wahltag passiert ist, kann man höchstens noch Mitleid haben mit den Wählern.