Koenigsbrunner Zeitung

In Sekunden zum richtigen Stück

Theater Augsburg Ilja Welitschko ist eine Ewigkeit Solo-Korrepetit­or. Wenn er die Proben der Tänzer begleitet, muss er sich in kürzester Zeit überlegen, welche Musik zu den Schritten passt

- VON RICHARD MAYR

Das Bild täuscht. Nur für das Treffen mit dem Fotografen hat der Pianist Ilja Welitschko das schwarze Hemd und die rote Fliege aus dem Kleidersch­rank genommen. Ansonsten nimmt er am Flügel weniger förmlich Platz, zum Beispiel in einem Ringelpull­over. Er sitzt auch nicht mit durchgedrü­cktem Rücken vor dem Instrument, sondern bequem im Bürostuhl. Wenn Welitschko vor handverles­enem Publikum spielt, spielt die Etikette keine große Rolle. Seine Zuhörer tragen Trainingsa­nzüge; und je länger Welitschko spielt, desto weniger haben die Tänzer auf der Probebühne 1 des Theaters Augsburg an.

Welitschko gehört mittlerwei­le zu den Mitarbeite­rn des Theaters, von denen man glaubt, dass sie schon immer am Haus gewesen sind. Seit 24 Jahren arbeitet der Ukrainer als Solo-Korrepetit­or; er studiert mit den Sängern neue Partien ein und begleitet die Tänzer bei ihrem Training. „Mein Anspruch ist, jedes Mal ein Konzert für die Tänzer zu geben.“Wenn er gut spiele, steigere das die Qualität des Trainings. „Es darf nicht langweilig werden.“

sorgt an diesem Tag auch Ballettdir­ektor Ricardo Fernando, der das Training anleitet. Erst an der Stange, später auch im Raum. Alles geht furchtbar schnell. Fernando zeigt eine Übung, vier oder sechs oder acht ineinander­gehende Bewegungen, Welitschko überlegt sich in diesen Sekunden, welche Musik er dazu spielt. Der Pianist greift in den Notenstape­l, den er mitgenomme­n hat, „Miss Celie’s Blues“liegt jetzt vor ihm, Fernando gibt den Tänzern das Signal, dass sie an der Reihe sind, Welitschko spielt.

Zu jeder Probe nimmt der Klavierspi­eler Noten mit. „Ich kann alles vom Blatt spielen“, sagt Welitschko über sich, so vom Blatt spielen, dass es wie in einem Konzert klinge. Das sei sein großer Vorteil als Repetitor. Und wenn für manche Übungen nicht die passende Musik dabei ist, spielt Welitschko, was ihm gerade einfällt, einfach auswendig.

Wenn alles perfekt ineinander­greift, genügen Blicke, um sich zu verständig­en. Der Ballettdir­ektor lächelt, als Welitschko das zweite Stück anstimmt, und er nickt kurz, wenn er die Übung beenden möchte. So entspannt das ausschauen mag, wie Welitschko auf dem Bürostuhl sitzt, so wachsam verfolgt er die Probe. Die Schrittfol­gen werden schneller, die Musik bekommt mehr Tempo.

Klavier spielt Welitschko schon ein Leben lang. In der Ukraine war Welitschko bis 1994 Solist und Korrepetit­or an der Nationalop­er in Kiew, er unterricht­ete an der Tschaikows­ki-Musikakade­mie. Seit er in den 1990er Jahren nach Augsburg zog, hat er mit fünf Intendante­n und sieben Ballettdir­ektoren zusammenge­arbeitet. Mit dem Gedanken an den Ruhestand kann er sich noch nicht wirklich anfreunden, obwohl Welitschko 68 Jahre alt ist.

Ein paar Techniker öffnen die Tür in den Probensaal. Sie müssen ein Teil des Bühnenbild­s transporti­eren. „Da wären sie besser vor der Probe gekommen, jetzt geht es nicht“, sagt Fernando, ohne die Stimme groß zu heben. Eine Unterbrech­ung wird nicht geduldet. Die Tänzer, der Ballettdir­ektor, SoloKorrep­etitor arbeiten wie ein einziger Organismus zusammen. Alle im Probensaal wissen genau, was zu tun ist, da gibt es keinen Leerlauf, kein Zögern, Diskutiere­n und erst recht kein Anhalten, auch wenn es langDafür sam anstrengen­d wird, weil es in den Raum geht.

Welitschko sitzt im Bürostuhl am Flügel, ohne eine Miene zu verziehen. Man sieht ihm nicht an, was er über die Polka denkt, die er gerade anstimmt. „Unter Donner und Blitz“hat Johann Strauss das Stück martialisc­h genannt. Welitschko­s Finger fliegen, die Tänzer schwitzen. Weiter geht es mit dem Radetzkyma­rsch. Der Ballettdir­ektor greift ein. Langsamer, dieses Stück langsamer. Der Pianist setzt noch einmal an. Jetzt passt es.

„Es gehört viel Übung dazu, so zu begleiten“, sagt Welitschko. Wenn das jemand zum ersten Mal mache, wisse er überhaupt nicht, was zu tun sei. Für die Tänzer ist die Probe mittlerwei­le richtig anstrengen­d geworden. Die Pullover, die langen Hosen, alles ausgezogen. Es gibt in diesen fünfzig Minuten keine Pause für sie. Entweder sie tanzen oder sie schauen, wie die nächste Übung aussieht. Welitschko gehen bis zum Schluss die Ideen nicht aus. Als Ricardo Fernando die Probe beendet, drehen sich die Tänzer zum Pianisten. Applaus! Welitschko lächelt zurück. Jetzt kann auch er sich entspannen.

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Foto: Ulrich Wagner Ilja Welitschko begleitet die Ballett Tänzer des Theaters nicht, nein, er spielt für sie Konzerte, wenn sie proben.

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