In Sekunden zum richtigen Stück
Theater Augsburg Ilja Welitschko ist eine Ewigkeit Solo-Korrepetitor. Wenn er die Proben der Tänzer begleitet, muss er sich in kürzester Zeit überlegen, welche Musik zu den Schritten passt
Das Bild täuscht. Nur für das Treffen mit dem Fotografen hat der Pianist Ilja Welitschko das schwarze Hemd und die rote Fliege aus dem Kleiderschrank genommen. Ansonsten nimmt er am Flügel weniger förmlich Platz, zum Beispiel in einem Ringelpullover. Er sitzt auch nicht mit durchgedrücktem Rücken vor dem Instrument, sondern bequem im Bürostuhl. Wenn Welitschko vor handverlesenem Publikum spielt, spielt die Etikette keine große Rolle. Seine Zuhörer tragen Trainingsanzüge; und je länger Welitschko spielt, desto weniger haben die Tänzer auf der Probebühne 1 des Theaters Augsburg an.
Welitschko gehört mittlerweile zu den Mitarbeitern des Theaters, von denen man glaubt, dass sie schon immer am Haus gewesen sind. Seit 24 Jahren arbeitet der Ukrainer als Solo-Korrepetitor; er studiert mit den Sängern neue Partien ein und begleitet die Tänzer bei ihrem Training. „Mein Anspruch ist, jedes Mal ein Konzert für die Tänzer zu geben.“Wenn er gut spiele, steigere das die Qualität des Trainings. „Es darf nicht langweilig werden.“
sorgt an diesem Tag auch Ballettdirektor Ricardo Fernando, der das Training anleitet. Erst an der Stange, später auch im Raum. Alles geht furchtbar schnell. Fernando zeigt eine Übung, vier oder sechs oder acht ineinandergehende Bewegungen, Welitschko überlegt sich in diesen Sekunden, welche Musik er dazu spielt. Der Pianist greift in den Notenstapel, den er mitgenommen hat, „Miss Celie’s Blues“liegt jetzt vor ihm, Fernando gibt den Tänzern das Signal, dass sie an der Reihe sind, Welitschko spielt.
Zu jeder Probe nimmt der Klavierspieler Noten mit. „Ich kann alles vom Blatt spielen“, sagt Welitschko über sich, so vom Blatt spielen, dass es wie in einem Konzert klinge. Das sei sein großer Vorteil als Repetitor. Und wenn für manche Übungen nicht die passende Musik dabei ist, spielt Welitschko, was ihm gerade einfällt, einfach auswendig.
Wenn alles perfekt ineinandergreift, genügen Blicke, um sich zu verständigen. Der Ballettdirektor lächelt, als Welitschko das zweite Stück anstimmt, und er nickt kurz, wenn er die Übung beenden möchte. So entspannt das ausschauen mag, wie Welitschko auf dem Bürostuhl sitzt, so wachsam verfolgt er die Probe. Die Schrittfolgen werden schneller, die Musik bekommt mehr Tempo.
Klavier spielt Welitschko schon ein Leben lang. In der Ukraine war Welitschko bis 1994 Solist und Korrepetitor an der Nationaloper in Kiew, er unterrichtete an der Tschaikowski-Musikakademie. Seit er in den 1990er Jahren nach Augsburg zog, hat er mit fünf Intendanten und sieben Ballettdirektoren zusammengearbeitet. Mit dem Gedanken an den Ruhestand kann er sich noch nicht wirklich anfreunden, obwohl Welitschko 68 Jahre alt ist.
Ein paar Techniker öffnen die Tür in den Probensaal. Sie müssen ein Teil des Bühnenbilds transportieren. „Da wären sie besser vor der Probe gekommen, jetzt geht es nicht“, sagt Fernando, ohne die Stimme groß zu heben. Eine Unterbrechung wird nicht geduldet. Die Tänzer, der Ballettdirektor, SoloKorrepetitor arbeiten wie ein einziger Organismus zusammen. Alle im Probensaal wissen genau, was zu tun ist, da gibt es keinen Leerlauf, kein Zögern, Diskutieren und erst recht kein Anhalten, auch wenn es langDafür sam anstrengend wird, weil es in den Raum geht.
Welitschko sitzt im Bürostuhl am Flügel, ohne eine Miene zu verziehen. Man sieht ihm nicht an, was er über die Polka denkt, die er gerade anstimmt. „Unter Donner und Blitz“hat Johann Strauss das Stück martialisch genannt. Welitschkos Finger fliegen, die Tänzer schwitzen. Weiter geht es mit dem Radetzkymarsch. Der Ballettdirektor greift ein. Langsamer, dieses Stück langsamer. Der Pianist setzt noch einmal an. Jetzt passt es.
„Es gehört viel Übung dazu, so zu begleiten“, sagt Welitschko. Wenn das jemand zum ersten Mal mache, wisse er überhaupt nicht, was zu tun sei. Für die Tänzer ist die Probe mittlerweile richtig anstrengend geworden. Die Pullover, die langen Hosen, alles ausgezogen. Es gibt in diesen fünfzig Minuten keine Pause für sie. Entweder sie tanzen oder sie schauen, wie die nächste Übung aussieht. Welitschko gehen bis zum Schluss die Ideen nicht aus. Als Ricardo Fernando die Probe beendet, drehen sich die Tänzer zum Pianisten. Applaus! Welitschko lächelt zurück. Jetzt kann auch er sich entspannen.