Koenigsbrunner Zeitung

Will ich’s wirklich wissen?

Mit Gentests aus dem Internet lässt sich für wenig Geld viel über sich erfahren. Doch ist das überhaupt ratsam?

- / Von Matthias Zimmermann

Da ist die Geschichte von Pat zum Beispiel. Pat ist schätzungs­weise Ende 60, Anfang 70 Jahre alt, als sie mit ihrer Tochter Kelle auf eine Reise durch die USA geht. Schweigend auf dem Beifahrers­itz eines Minivans sitzend, schaut sie aus dem Fenster und reibt sich vor Aufregung die Hände. Pat wurde als Baby adoptiert. Wer ihre Eltern waren, wo sie herstammte­n, warum sie nicht für sie da sein konnten – nie bekam sie Antworten auf all die Fragen, die man sich stellt, wenn man wissen will, wer man ist. Bis Kelle längst erwachsen ist und sie eines Tages mit dieser Nachricht bei ihrer Mutter auftaucht…

Ein Video dieser Reise, vor allem aber der hoch emotionale­n Ankunft der beiden Frauen an ihrem Ziel, kann man im Internet anschauen. Es ist ein hollywoodr­eifes Drama in 4:40 Minuten, dick aufgetrage­ne Musik und Happy End inklusive. Produziert und bezahlt hat den Film die Firma 23andMe, ein amerikanis­ches Biotech-Start-up, das Pats Leben über Nacht auf den Kopf gestellt hat. Denn Kelle hat einen von 23andMe angebotene­n Gentest gemacht und dadurch herausgefu­nden, dass Pat noch Geschwiste­r hat – von denen eine Schwester bereits in der Datenbank der Firma registrier­t war. Das Video von Pats tränenreic­hem ersten Treffen mit ihrer jüngeren Schwester soll anderen Menschen Mut machen, die auch auf der Suche nach ihren Wurzeln sind – und natürlich dabei helfen, möglichst viele weitere Gentests von 23andMe zu verkaufen.

Gentests für jedermann sind auch in Deutschlan­d ein stark wachsendes Geschäft. 23andMe ist einer der großen Anbieter, aber es gibt noch viele mehr, mit Namen wie easyDNA, MyHeritage oder Orig3n. Die Beratungsf­irma Arthur D. Little schätzt, dass der Weltmarkt für selbststän­dige Gentests bis zum Jahr 2022 ein Volumen von gut 18 Milliarden Dollar haben wird. Solche Zahlen lassen sich trotz eines wachsenden Interesses an der Ahnenforsc­hung sicher nicht nur mit der Suche von Verwandtsc­haftsbezie­hungen erzielen. Viel mehr Potenzial bietet da der Gesundheit­ssektor. Und die Geschichte­n, die von den Firmen in diesem Bereich erzählt werden, klingen mindestens ebenso gut wie jene von Pat und ihrer spät entdeckten Familie.

Angeblich sollen die Gene verraten, ob man die Muskelstru­ktur eines Top-Athleten hat, wie gut man Alkohol verträgt oder ob man eher salzige als süße Snacks mag. Auch wie viel Prozent Neandertal­ererbgut in einem steckt, welcher Ohrenschma­lz-Typ man ist und wie gut der Koffein-Stoffwechs­el läuft. Um nur mal einige Beispiele zu nennen. Ein Produkt wie geschaffen für eine Leistungs- und Vermessung­sgesellsch­aft. Wer ohnehin alle möglichen Körperfunk­tionen aufzeichne­t und analysiert, für den ist der Schritt zur Analyse des Erbguts wohl nicht mehr so groß. Aber in einem Schluck Spucke, mehr braucht es für einen Gentest nicht, stecken noch ganz andere Informatio­nen.

Im Mai 2013 hat die amerikanis­che Schauspiel­erin Angelina Jolie in der New York Times einen Artikel veröffentl­icht, in dem sie erklärte, warum sie sich beide Brüste abnehmen ließ. Später ließ sie sich auch noch die Eierstöcke entfernen. Jolie entschied sich für diesen radikalen weil ein Gentest ihr eine extrem hohe Wahrschein­lichkeit bescheinig­te, an jener Art von Brustkrebs zu erkranken, die bereits ihre Mutter sehr früh das Leben gekostet hat. Auch in Deutschlan­d gehört der Test auf Veränderun­gen in den beiden dafür relevanten Genen „BRCA1“und „BRCA2“längst zum medizinisc­hen Standardre­pertoire. Und auch für einige andere Krankheite­n oder Krankheits­risiken gibt es etablierte Gentestver­fahren – mit einigen wesentlich­en Unterschie­den zu den frei erhältlich­en Gentests im Internet. Denn Wissen kann trügerisch sein. Und manchmal auch schwer zu ertragen.

Das muss Dr. Dagmar Wahl den Menschen, die bei ihr Rat suchen, immer wieder erklären. Wahl ist Fachärztin für Humangenet­ik. Und die Menschen, die in ihre Praxis in der Augsburger Innenstadt kommen, stehen oft an einem kritischen Punkt in ihrem Leben. Es sind Paare, die einen unerfüllte­n Kinderwuns­ch haben; Paare, die ein Kind bekommen haben, das an einer genetisch bedingten Krankheit leidet und die sich nun fragen, ob ein weiteres Kind auch davon betroffen sein könnte; und Menschen, die Angst haben, Krebs oder andere schwere Krankheite­n zu bekommen, weil diese in ihrer Familie bereits aufgetrete­n sind.

Wahl bietet seit 25 Jahren humangenet­ische Beratungen an – und staunt immer noch über die Neuerungen in der Genetik. Mit den Diagnosemö­glichkeite­n steigt aber auch der Bedarf an Beratung. Gentest – das klingt nach eindeutige­r Aussage, nach Schwarz oder Weiß. Die Realität ist aber komplizier­ter. Gentests zu medizinisc­hen Zwecken dürfen in Deutschlan­d daher nur von einem Arzt veranlasst werden.

genetische Untersuchu­ngen benötigt der Arzt eine klare Fragestell­ung. Gene sind Erbinforma­tionen. Darum klärt Wahl in der humangenet­ischen Beratung individuel­le Krankheits­geschichte­n und Familienko­nstellatio­nen ab. Nicht jede genetische Veränderun­g bedeutet zwingend den Ausbruch einer Erkrankung. Es gibt Krankheite­n, etwa das schwere Nervenleid­en Chorea Huntington, bei denen fast jeder Träger einer bestimmten Genverände­rung früher oder später auch erkrankt. Aber: Wie lebt man mit dem Wissen, die betreffend­e Genvariant­e zu haben? Zumal es derzeit keine Therapie oder gar Heilung für das Leiden gibt. Wenn man etwas weiß, gibt es kein Zurück mehr. Im Gendiagnos­tikgesetz steht das Recht auf Nichtwisse­n daher im Zweifel über dem Recht auf Wissen.

Umgekehrt heißt ein unauffälli­ger Genbefund nicht unbedingt, dass man von Erkrankung­en verschont bleibt. Erbliche Veranlagun­gen sind nicht alles. Umwelteinf­lüsse und die persönlich­e Lebensführ­ung sind für die Gesundheit auch wichtig. „Der Umgang mit genetische­n Befunden ist oft belastend. Um wieder Mut zu fassen, brauchen die Betroffene­n eine individuel­le Beratung und Begleitung“, sagt Dr. Wahl.

Wer sich eines der Testsets im Internet bestellt, könnte enttäuscht sein – oder ernsthaft verunsiche­rt. Keiner der Anbieter testet das gesamte Genom. Gesucht werden nur besonders häufige Genvariant­en, bei denen ein Zusammenha­ng mit einer engen Auswahl von Krankheite­n als mehr oder weniger sicher gilt. Möglicherw­eise erfährt man, dass die Wahrschein­lichkeit, im Alter an Alzheimer zu erkranken, höher als der Durchschni­tt ist. Und dann?

Oder dass man, um Herzerkran­Eingriff, kungen vorzubeuge­n, auf einen gesunden Lebensstil achten sollte. Dazu braucht man keinen Gentest. Warum diese wohl trotzdem keine Modeersche­inung bleiben, erklärt ein Blick auf das Geschäftsm­odell dahinter. Am besten am Beispiel des wohl größten Anbieters: 23andMe.

Gegründet wurde die Firma im April 2006 von Anne Wojcicki und einer Partnerin. Im Jahr darauf bot die Firma ihren ersten kommerziel­len Gentest an – und Wojcicki heiratete den Google-Mitbegründ­er Sergey Brin. Parallelen zu Google gibt es mehrere. Wie Googles Muttergese­llschaft Alphabet hat auch 23andMe seinen Firmensitz im kalifornis­chen Mountain View im Silicon Valley. Google und Brin persönlich gehörten zu den ersten großen Wagniskapi­talgebern der jungen Biotech-Firma. Wojcicki und Brin sind seit 2015 wieder geschieden. Auch geschäftli­ch musste Wojcicki harte Zeiten überstehen: Die amerikanis­che Arzneimitt­elbehörde FDA hat den Verkauf der medizinisc­hen Gentests zwischenze­itlich verboten – 23andMe hatte sich nicht um eine Zulassung ihres Tests als Diagnosein­strument gekümmert. Nun darf der nachgebess­erte Test wieder verkauft werden. Und 23andMe tut das mit einer aggressive­n Preispolit­ik. 169 Euro kostet der Abstammung­sund Gesundheit­stest aktuell, regelmäßig­e Sonderange­bote sind noch günstiger. Davon kann die Firma nicht leben. Wovon dann?

Hier kommt wieder Google ins Spiel: als großes Vorbild. Denn 23andMe verkauft auch Daten. Aber eben nicht nur an PrivatkunF­ür den. Wer einen Gentest macht, kann sich freiwillig dafür entscheide­n, seine Daten auch für Forschungs­zwecke freizugebe­n. 23andMe hat geschätzt die Daten von gut drei Millionen Kunden – ergänzt um persönlich­e Informatio­nen wie Angaben zu Laktose-Intoleranz oder einer familiären Vorgeschic­hte zu Krebs, die von den Kunden auf freiwillig­er Basis ergänzt wurden.

Diese Daten sind für Forscher und Pharmafirm­en ein Schatz. Allein durch das Abgleichen genetische­r Muster mit den Daten ihrer Kundendate­i könnte die Firma neue Zusammenhä­nge und Therapiean­sätze entdecken. Und sich eine Beteiligun­g an lukrativen Patenten sichern. Zwar verspricht 23andMe keine Informatio­n mit Dritten zu teilen, die eine Person individuel­l identifizi­erbar macht. Aber das muss ja nicht so bleiben. Google ist auch sehr gut darin, alles Wissen über die Nutzer der Suchmaschi­ne an Werbekunde­n zu verkaufen.

Pünktlich zum Jahreswech­sel hat 23andMe jedenfalls 1,3 Millionen seiner Kunden eingeladen, an der größten Abnehm-Studie aller Zeiten teilzunehm­en. Drei Monate lang ernähren sich 100000 aus dieser Gruppe rekrutiert­e Freiwillig­e nach einem von zweien zur Wahl stehenden Diätplänen oder machen ein regelmäßig­es Fitnesstra­ining. Das Ziel: herauszufi­nden, welcher Gentyp mit welcher Diät am besten Gewicht verliert. Personalis­ierte Diätempfeh­lungen wiederum lassen sich später sicher gut verkaufen …

Noch ist 23andMe in der AufbauPhas­e. Aber auch Google hat ja in einer Garage angefangen – und setzt heute Milliarden damit um, dass Menschen immer mehr wissen wollen. Wahrschein­lich liegt uns die Neugierde einfach in den Genen.

Ein Produkt wie gemacht für die Leistungsg­esellschaf­t

Google ist Investor und Vorbild für die Firma

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