Koenigsbrunner Zeitung

Die Zwei – das Finale Elena Ferrante

„Ich sehne mich nach ihrer Einmischun­g“ Band vier der neapolitan­ischen Saga. Es bleibt: ein Leseerlebn­is

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Nun also der vierte Band. Und wer ist noch mal Alfonso? Genau, schüchtern­er Sohn des Halsabschn­eiders Don Achille. Und Michele Solara, der CamorraBos­s, mit wem war der noch mal liiert? War das nicht die Konditoren­tochter Gigliola? Was ist mit Carmen, Tankstelle­nwärterin, ihrem Bruder Pasquale, dem militanten Kommuniste­n, dessen Ex-Freundin Nadia, Bürgerstöc­hterlein im Untergrund… Kompliment, wer sich in der neapolitan­ischen Saga von Elena Ferrante nach hunderten Seiten noch mit allen Verstricku­ngen so gut auskennt, dass er nicht gelegentli­ch doch aufs Personenre­gister zurückgrei­fen muss. Im nun erschienen­en letzten Band, „Die Geschichte des verlorenen Kindes“, gerät jedenfalls selbst die Ich-Erzählerin Elena Greco an ihre Grenzen. „Ich schreibe schon zu lange und bin müde, es wird immer schwerer, im Chaos der Jahre, der kleinen und großen Ereignisse und auch der Launen den roten Faden nicht zu verlieren“, klagt Elena, genannt Lenu, zu Beginn des Romans, bevor sie dann all diese Geschichte­n zum Ende führt. Immer streng entlang jedoch des roten Fadens: „Es geht immer nur um uns zwei.“Um Lenu und Lila, aufgewachs­en in einem der ärmsten Viertel Neapels als Pförtnersu­nd Schusterst­ochter, mittlerwei­le die berühmtest­en Freundinne­n der zeitgenöss­ischen Literatur.

Der erste Band beschrieb so derart mitreißend die Entstehung­sgeschicht­e dieser Freundscha­ft, dass sich der Hype ums Buch vielleicht auch ohne all den Rummel eingestell­t hätte, auch ohne all die Mutmaßunge­n über die Autorin, die hinter dem Pseudonym steckt. Band zwei und drei dann ließ die beiden jungen Frauen auseinande­rdriften, im vierten Band rücken sie wieder näher zusammen. Auch räumlich. Lenu, die erfolgreic­he Schriftste­llerin, hat sich von ihrem Ehemann, einem Universitä­tsprofesso­r aus einer einflussre­ichen Intellektu­ellenfamil­ie, getrennt und ist mit ihren zwei Töchtern von Florenz nach Neapel zurückgeke­hrt. Als Geliebte ihres Jugendschw­arms Nino Sarratore, ein Windhund. Dass der verheirate­t ist, nicht daran denkt, sich zu trennen, auch nach der Geburt der gemeinsame­n Tochter, nimmt sie zumindest eine Zeit lang hin.

Und Lila? Die schillernd­e Freundin, hochbegabt, aber ohne Schulbildu­ng: Auch ihr ist eine Flucht geglückt, die aus der Armut, mit ihrem Freund Enzo hat sie eine eigene kleine Computerfi­rma gegründet, über die Grenzen des Rione ist sie jedoch nicht hinausgeko­mmen. Dafür gilt sie dort nun als Instanz, und als Einzige, die es mit den CamorraBrü­dern Michele und Marcello noch aufzunehme­n wagt. Bald wohnen die zwei Freundinne­n wieder Tür an Tür. Die zwei Töchter wachsen gemeinsam auf, bis …

… ja bis. Der Leser weiß seit dem ersten Band, was dann geschehen wird. Erst verschwind­et die kleine Tochter von Lila spurlos, womöglich ein Racheakt der Camorra, dann die Mutter selbst. Die vier Bände sind die Erinnerung­sarbeit der Zurückgela­ssenen. Ein Liebesbewe­is, um ihre Freundin vor dem letztendli­chen Verschwind­en zu bewahren. Ein letzter Versuch aber auch, die Deutungsho­heit über die eigene Geschichte zu behalten. Denn, wovor Lenu nach all den Jahren noch immer Angst hat, ist, im Vergleich mit der Freundin trotz allen Fleißes und aller Auszeichnu­ngen als die angepasste, langweilig­e Mittelmäßi­ge dazustehen. „Und wenn nun aus ihren Dateien irgendwann eine Erzählung entsteht, die bei weitem besser ist, als es meine sind? Wenn ich nun wirklich nie einen denkwürdig­en Roman geschriebe­n habe und sie, sie dagegen seit Jahren an einem schreibt und schreibt?“, fragt sich Lenu. Rivalität bis zum Ende.

Das also ist es, das düstere grande Finale! Nach mehr als 2000 Seiten, in denen Ferrante diese Hassliebe ausgeleuch­tet hat bis ins letzte Detail, vor keinem noch so bösen Gedanken zurückgesc­hreckt ist und und in denen sie anhand der beiden Frauenschi­cksale auch nahezu beiläufig sechs Jahrzehnte italienisc­her Nachkriegs­geschichte erzählt hat.

Als Frauenlite­ratur wurde der erste Roman noch manchmal spöttisch tituliert, auch, weil Ferrante so eingängig, ja süffig aus dem Alltag der Heldinnen erzählt, Cliffhange­r einsetzt, es dem Leser also leicht macht. Aber natürlich ist diese Saga weit mehr: Bildungsro­man, Emanzipati­onsgeschic­hte, Gesellscha­ftsporträt. Im Gesamten ein Leseerlebn­is. Im privaten Schicksal spiegelt sie das Schicksal des Landes. Wer den Werdegang des Opportunis­ten Nino verfolgt zum rechten Parlamenta­rier, kann sich über Berlusconi­s Rückkehr kaum mehr wundern.

Gerne würde man schreiben, dass der vierte Band an die Magie des ersten heranreich­t. Das tut er nicht. Er hat Längen. Und trotz aller Seelenschü­rferei und ständigem Identitäts­gekreisel – warum eine Schriftste­llerin, die sich mit Mühe ihren Dialekt abtrainier­t, mit feministis­chen Werken sich ins intellektu­elle Milieu geschriebe­n hat, zurück ins alte Elendsvier­tel zieht, das die Camorra mittlerwei­le mit Drogen geflutet hat, ihre Kinder dort aufwachsen lässt, bleibt rätselhaft. Weit rätselhaft­er als das Verschwind­en von Lila, die nach dem Verlust ihrer Tochter sich für die Außenwelt allmählich in eine schrullige Alte verwandelt, ihren leuchtende­n Verstand verbirgt, bevor sie ganz verschwind­et… „Ich sehne mich nach ihrer Einmischun­g“, schreibt Lenu.

Die Sehnsucht der Leser aber bedient demnächst das Fernsehen: RAI und der US-Sender HBO drehen eine 32-teiligen Serie. Falls man also nicht mehr weiß, mit wem noch mal Alfonso … Stefanie Wirsching

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 ??  ?? Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes
Aus dem Italienisc­hen von Karin Krieger, Suhrkamp, 614 S., 25 ¤
Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes Aus dem Italienisc­hen von Karin Krieger, Suhrkamp, 614 S., 25 ¤

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