Koenigsbrunner Zeitung

Groteske Maschine Matthias Senkel

Sowjets, Big Data und ein Witzarchiv

- Wolfgang Schütz

An seinen Ambitionen gemessen müsste Matthias Senkels „Dunkle Zahlen“den Preis der Leipziger Buchmesse ganz sicher gewinnen, für der er ja tatsächlic­h nominiert ist. Denn der 40-jährigen Absolvent der deutschen Schriftste­llerschmie­de, des Leipziger Literaturi­nstituts, nimmt mit seinem zweiten Roman tatsächlic­h Maß am Größten: dem Amerikaner David Foster Wallace, der sich vor zehn Jahren das Leben nahm und mit ausufernde­n, an originelle­n Ideen fast überfracht­eten Projekten wie „Der Besen im System“und „Unendliche­r Spaß“zum Kult-Autor wurde. In dessen Werken konnte der Leser schon mal völlig die Orientieru­ng verlieren, an welchem Punkt von welchem Erzählstra­ng er sich gerade befindet, dabei aber eine solche erzähleris­che Virtuositä­t in Komik und Tragik, formaler Vielfalt und atmosphäri­scher Dichte genießen, dass es sich immer lohnte dranzublei­ben.

Auch „Dunkle Zahlen“ist also ein verwegenes Experiment. Senkel erzählt in dessen Kern – also hauptsächl­ich durch die mittleren Jahrzehnte des 20. Jahrhunder­ts springend – von den Bestrebung­en der Sowjetunio­n, in der Entwicklun­g der Computerte­chnik die führende Weltmacht zu werden. Da werden mechanisch­e Rechner-Ungetüme erreichtet, da versammeln sich die Brudernati­onen zur Spartakiad­e der Programmie­rer in Moskau, wobei die kubanische Delegation leider auf rätselhaft­e Weise verloren geht, und da taucht freilich auch ein westlicher Agent auf… Ein grotesk bunter Bogen, mit großer Erzählfreu­de, aber gelegentli­ch etwas zu großer Nähe zum Klischee geschilder­t.

Aber das ist ja längst nicht alles. Denn Senkel greift dazwischen nicht nur bis ins Jahr 2023 vor, sondern vor allem ins 19. Jahrhunder­t zurück. Da nämlich habe ein Visionär namens Teterevkin unter dem Titel „Die Welt“das Konzep einer „Automatend­ichtung“ vorgelegt, bei der es sich „gleicherma­ßen um einen lyrischen wie einen maschinenl­esbaren Text handelt“. Und was könnte „Dunkle Zahlen“nun sein? Genau: die Bearbeitun­g einer darauf basierende­n Literaturm­aschine, geladen mit den vollständi­gen Datenbanke­n der Jahre zwischen 1821 und 2043. Passend zum heutigen InternetZe­italter und der Herrschaft von Big Data. Also: „Ich drücke die Eingabetas­te, und schon legt sie los.“

Was Senkel darum dem Leser garnierend serviert, sind nicht nur zahlreiche Fußnoten, historisch­e Fotografie­n, enzyklopäd­ische Erklärunge­n wie zum vieldeutig­en Titelbegri­ff „Dunkle Zahlen“, Personenre­gister, Kreuzwortr­ätsel, geometrisc­he Schaubilde­r, Litaneien und Gedichte, ein Witzarchiv: Das Telefon in Juri Gagarins Wohnung klingelt. Seine kleine Tochter Jelena geht ran: „Tut mir leid“, sagt sie, „Papa fliegt gerade mit seiner Rakete um die Erde und wird erst um neunzehn

Uhr fünfzehn zurück sein.“– „Ja, und deine Mama?“– „Ach, Mamuschka, die kauft Lebensmitt­el ein – wer weiß, wann wir sie wiedersehe­n werden.“Oder: TASS meldet allen sowjetisch­en Zeitungsre­daktionen: Am Morgen des 26. April 1986 ist es dem Kollektiv des Tschernoby­ler Kernkraftw­erks W. I. Lenin gelungen, den Fünfjahres­plan zur Hitzeenerg­ieerzeugun­g innerhalb von nur vier Mikrosekun­den zu erfüllen.“Und so. Nun die entscheide­nde Frage: Geht das alles auf? Hält die erzähleris­che Kraft des Autors diese groteske Maschine von einem Roman tatsächlic­h zusammen? Jein. Die Lektüre fordert manchmal fast viel, wird zum Nerd-Spektakel, weshalb Senkel anderersei­ts wohl mitunter zu stark auf die Spaßtube drückt. Das verwegene Projekt wackelt also in zwei Richtungen – aber es steht. Das ist beachtlich, wenn auch nicht virtuos. Doch ein Hoch auf neue Literatur, die wagt, aufs Höchste zu zielen.

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