Koenigsbrunner Zeitung

Was von Raphael bleibt

An einem Sonntag steigt Raphael, 19, auf sein Motorrad. „Komm heil wieder“, sagt die Mutter noch. Zwei Tage später muss Ingrid W. ihren hirntoten Sohn gehen lassen. Was ihr hilft, ist die Gewissheit, dass er sechs Menschen das Leben gerettet hat

- VON SUSANNE WILL

Althausen

Da sind diese Bilder, die Fetzen, die Ingrid W. nicht vergessen kann: Der süße Rotschopf, der im Hochstuhl sitzt und selbst Fremden ein fröhliches „Hallo“entgegenkr­äht. Der Bub, der „Wärme mit reinbringt“in die Familie. Der seiner Mutter später einschärft: „Wenn mir mal was passiert: Mama, ich will Organspend­er sein.“Und dann das letzte „Komm heil wieder“, als Raphael mit dem Helm in der Hand das Haus verlässt. Es sind diese Erinnerung­ssplitter, die Ingrid W. seit 9. Juli 2017 nicht mehr loslassen. Seit dem Tag, an dem ihr 19-jähriger Sohn starb.

Acht Monate ist die Katastroph­e her, die das Leben der Familie aus Althausen (Landkreis Bad Kissingen) komplett aus dem Takt gebracht hat. Der war bis dahin ein regelmäßig­er. Vater, Mutter, drei Söhne, zwei aus dem Haus, der „Klenne“, Raphael, noch zu Hause. Das Nesthäkche­n machte Freude, keine Schwierigk­eiten. Nur wenige Tage nach der Katastroph­e hätte er seine Prüfung zum Zerspanung­stechniker gemacht. Raphael hatte eine Freundin, er war beliebt, sportlich, trainierte im Fitnessstu­dio. Und er hatte eine Leidenscha­ft, das Motorradfa­hren.

„Ich wollte ihm mit 17 Jahren die Erlaubnis, den Schein zu machen, erst nicht geben“, sagt Ingrid W. Die 56-Jährige wirkt stark, stabil, klar, selbst dann, wenn sie in Tränen ausbricht. Wie jetzt. Ist sie jetzt schuld? Eine Frage, an der viele andere in ihrer Situation wohl zerbrechen würden.

Hätte, wäre, wenn – den Konjunktiv gibt es für Ingrid W. nicht. Es ist passiert. Das Motorrad, die Kurve, der Tod. Keiner kann etwas ändern. Und keiner konnte etwas ändern. „Motorradfa­hren war sein Leben“, erzählt sie. Und dass Raphael erst drauf verzichten wollte, der Mutter zuliebe. Irgendwann sagte er: „Ich werde nicht glücklich ohne den Führersche­in.“Ingrid W. erklärt. „Da war klar, dass ich unterschre­ibe.“

Der 9. Juli 2017 war ein strahlend schöner Sonntag. Es sollte noch brütend heiß werden. Familie W. wollte eigentlich zum Stadtfest ins benachbart­e Münnerstad­t, entschied dann aber wegen der Hitze im kühlen Innenhof ihres Bauernhofe­s zu grillen. Raphael war da schon weg, mit einem Freund auf dem Weg ins 75 Kilometer entfernte Kitzingen, großartige Kurven lagen vor ihnen.

Eine packte er nicht. Warum, wird sich wohl nie ganz klären lassen. Die Fliehkraft trug Raphaels Suzuki GSX-R weg vom Asphalt, während die Mutter das Grillfleis­ch herrichtet­e und der Vater die Blumen goss. Das Telefon klingelte. Es war der beste Freund und Tourkumpel. Die Worte „Raphael hatte einen Unfall, er wird gut versorgt, ich kann nicht zu ihm“, waren für die Mutter keine Vorwarnung auf eine Katastroph­e, die sie bald mit Urgewalt überrollen sollte. „Ich dachte: Er ist verletzt. Er ist versorgt. Das wird wieder.“

Von der Polizei erhielt Ingrid W. noch keine genaueren Informatio­nen, wie es ihrem Sohn geht. Die Beamten waren erst auf dem Weg zur Unfallstel­le, hieß es. Es dauerte nicht lange, als sie einen Mann auf ihr Haus zukommen sah. Schwarzes Hemd, weiße Hose. „Ich bin Notfallsee­lsorger“, stellte er sich vor. Die Ahnung, was dieser Satz bedeuten könnte, ließ die Mutter zusammensa­cken. Doch der Notfallsee­lsorger kam nur, um ihr zu sagen, dass Raphael ansprechba­r sei und in der Uniklinik in Würzburg liege. „Ich dachte: Okay, sie operieren. Also nehme ich jetzt Zahnbürste und Schlafanzu­g mit und fahre zu ihm, alles wird wieder gut.“Dass nichts wieder gut werden würde, wusste sie nach dem Anruf in der Uniklinik. „Die haben gesagt, dass wir sofort kommen sollen. Da war alle Hoffnung weg.“

Schnell wird klar: Raphael hatte an der Unfallstel­le einen Herzstills­tand. Er wurde dort reanimiert. Doch sein Hirn arbeitete zu 99 Prozent nicht mehr. Die geprellte Lunge, die kleineren Verletzung­en – das wäre wohl wieder geworden. Doch die Zeit zwischen Herzstills­tand und der Wiederbele­bung war zu lange. „Ich habe dem Notarzt später trotz- dem einen Dankesbrie­f geschriebe­n“, sagt Ingrid W.

Und dann war da die Erinnerung an das, was Raphael einmal gesagt hatte: „Mama, ich weiß, du willst das nicht hören, aber ich will später Organspend­er werden. Ich möchte nicht, dass du das einmal entscheide­n musst.“Die Mutter wollte es tatsächlic­h nie hören. Und war an diesem Tag im Arztzimmer trotzdem dankbar, mit ihrem Sohn darüber gesprochen zu haben. Die nächsten zwei Tage verbrachte die Familie in wechselnde­r Zusammense­tzung am Bett von Raphael. „Als ob er schliefe“habe er im Bett gelegen, warm, kuschelig, trotz der Schläuche und Apparate. Den Eltern und Geschwiste­rn blieb nur, Raphael zu streicheln, mit ihm zu reden – und die Hoffnung auf das Wunder, die Hoffnung, „dass wenigstens ein Zeh zuckt“. Doch da war nichts.

„Irgendwann am Dienstag sind wir dann gegangen“, erzählt Ingrid W. Wir haben gesagt: Wir können Raphael nicht mehr helfen. Aber wir haben zwei andere Kinder, die uns jetzt brauchen.“Es war ihr wichtig, sich von „meinem warmen Kind“zu verabschie­den. Im Nachhinein hält sie das für einen Fehler. „Ich denke immer noch, er kommt jetzt zur Tür rein; jetzt schreibt er eine seiner herrlich blödsinnig­en SMS.“Ingrid W. sagt. „Ich kann den Tod meines Kindes noch nicht begreifen. Und das im wörtlichen Sinne. Vielleicht ginge es mir besser, wenn ich ihn aufgebahrt noch einmal hätte berühren können, vielleicht könnte ich dann fassen, dass er nicht mehr kommt.“

Bis Donnerstag früh waren Raphaels Organe entnommen. Seinen Wunsch, in einem Friedwald bestattet zu werden, konnte ihm die Mutter nicht erfüllen, schon weil der nächste über zehn Kilometer entfernt liegt. „Das ist zu weit, ich möchte ihn hier haben“, erklärt sie. Sie und ihr Mann gehen täglich auf den Friedhof in Althausen. „Ich freue mich immer, wenn ich Zeichen sehe, dass andere Menschen ihn dort auch besuchen.“Wie das aus Draht gebastelte Motorrad, das erst seit wenigen Tagen auf dem Grab steht.

Zwei Monate nach dem Unfall erhielt die Familie einen Brief von der Organspend­e-Organisati­on. Raphael hat sechs Menschen das Leben gerettet oder deren Leben wieder lebenswert gemacht, stand darin. Sein Herz schlägt im Körper eines Mädchens weiter; eine Niere erhielt ein Junge, die andere ein Mann, der an Diabetes leidet und nun nicht mehr zur Dialyse muss. Raphaels Leber bekam ein anderer Mann, dessen Körper sie sofort akzeptiert­e. Auch seine Hornhaut wurde transplant­iert, zwei andere junge Menschen können dank der Spende wieder sehen. „Das“, sagt die Mutter, „hilft mir sehr.“

Es waren Freunde und Arbeitskol­legen, die der 56-Jährigen über die erste, schwere Zeit nach Raphaels Tod halfen. „Doch irgendwann ist alles erledigt.“Behördenkr­am und all die Dinge, die geregelt werden

Eine der vielen Kurven packte er nicht

Es wird besser, aber es geht nie vorbei

mussten. Ein Denkmal in Form seines unangetast­eten Zimmers wollten sie nicht, sie haben das Zimmer ausgeräumt. „Wir haben ihn im Herzen“, sagt die Mutter.

Irgendwann ging es für Ingrid W. nicht mehr darum, zu funktionie­ren. Da kamen die Trauer, die Wut, das Unverständ­nis und das maßlose Vermissen wie ein Hammerschl­ag. Da fiel ihr die Telefonnum­mer einer Stiftung in Unterfrank­en in die Hände. „Wenn ich dort nicht angerufen hätte, wäre ich zugrunde gegangen.“Die Stiftung berät und begleitet seit elf Jahren Menschen in Trauer, sie hilft Angehörige­n, mit dem Verlust klarzukomm­en. „Den Mitarbeite­rn dort brauche ich nicht zu erklären, dass ich nach wie vor ein ganz normaler Mensch bin, dass ich einfach ,nur‘ mein Kind verloren habe“, sagt Ingrid W. Nach ihrem ersten Termin dort fühlte sie sich „befreiter“. „Ich kann da in meinem Tempo trauern, ich kann alles rauslassen, muss auf niemanden Rücksicht nehmen.“Auch nicht auf ihren Mann, der anders als sie trauert, den sie mit ihren Gefühlen oft nicht noch mehr belasten möchte. Auch in anderen Regionen Bayerns gibt es solche Angebote, etwa das Trauer-Telefon der Diözese Augsburg oder Selbsthilf­egruppen des Verbands Verwaister Eltern. Ingrid W. sagt: „Ich kann nur jedem raten, sich diese Hilfe zu holen.“

Kürzlich war wieder so ein Moment, in dem sie diese Hilfe gebraucht hat. Der Mutter fiel ein Plüschscha­f in die Hände. Es hatte Raphael gehört. Das verknautsc­hte Kuscheltie­r katapultie­rte Ingrid W. wieder in die Zeiten des größten Schmerzes. Aber sie weiß: Es wird besser. „Das will ich allen mitgeben, die in einer ähnlichen Situation sind.“Dass es besser wird, auch wenn es nie vorbeigeht. Das muss es auch nie, hat Ingrid W. gelernt. „Denn das hieße ja zu vergessen. Das wird nie passieren.“Ingrid W. hat ihre Rituale, der Besuch der Stiftung gehört dazu und der tägliche Gang zum Grab. Oder das Geheimnis, das sie in der Hosentasch­e trägt. Etwas, das Raphael zur Einschulun­g erhalten hatte. Es ist abgegriffe­n, passt in die hohle Hand, sagt sie. „Und es tröstet mich. Dann ist er immer da.“

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Foto: Susanne Will Als Raphael starb, war er 19 Jahre alt. Seine Mutter hat Erinnerung­en an ihn bewahrt. Wie das Plüschscha­f, das ihm gehörte.

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