Koenigsbrunner Zeitung

„Individuel­le Leistung gibt es nicht“

Gerade in der Arbeitswel­t spielt Leistung eine große Rolle. Historiker­in Nina Verheyen nimmt den Begriff auseinande­r und erklärt, warum viele Menschen ihm zu viel Bedeutung zumessen

- Interview: Sarah Schierack

Frau Verheyen, Sie haben Ihr Buch die „Die Erfindung der Leistung“genannt. Haben Menschen denn nicht schon immer danach gestrebt, sich anzustreng­en, also etwas zu leisten? Nina Verheyen:

Natürlich gehört es gewisserma­ßen zum Menschsein, Fähigkeite­n zu entwickeln und zu vergleiche­n. Kinder laufen ja schon auf dem Spielplatz um die Wette und am Ende ruft einer „Erster!“. Aber das hat wenig mit der Systematik zu tun, mit der unsere Gesellscha­ft um den Gedanken kreist, individuel­le Leistung sei eine messbare Größe, entlang derer Menschen hierarchis­iert werden können. Wir verwenden unheimlich viel Geld und Zeit darauf, Leistungen möglichst exakt zu ermitteln, sie zu steigern und zu feiern.

Ist Leistung denn etwas Negatives?

Verheyen:

Problemati­sch ist, dass wir über angebliche Leistungsu­nterschied­e soziale Ungleichhe­it rechtferti­gen. Wir gestehen uns aber nicht ein, wie unscharf diese Kategorie ist. Mit meinem Buch will ich vor allem dazu auffordern, Leistung nicht als objektive, messbare Größe zu denken, die sich einer Einzelpers­on eindeutig zuordnen lässt, sondern den Denkhorizo­nt zu erweitern. Das fängt bei der Geschichte des Wortes an.

Was haben Menschen früher gemeint, wenn sie von Leistung sprachen? Verheyen:

Ganz am Anfang stand „leisten“für das Folgen einer Spur oder einer Fußspur. Daraus wurde die Erfüllung einer Schuld, dann die aktive Übernahme einer Verpflicht­ung. Um 1800 veranschau­lichten Wörterbüch­er das Wort mit Formeln wie „jemandem einen Dienst leisten“, ihm Hilfe, Schutz oder auch Gesellscha­ft leisten. Das hat nichts mit dem zu tun, was heute oft assoziiert wird: Arbeit pro Zeit. Statt um Physik ging es um etwas, das eine Person für eine andere tat, tun sollte oder wollte.

Sie schreiben, heute trenne Leistung Menschen eher voneinande­r als sie zu verbinden. Wann hat das angefangen? Verheyen:

Man kann keinen konkreten Startpunkt festlegen. Aber seit dem 19. Jahrhunder­t hat sich die Erfahrung breiter Bevölkerun­gsgruppen stark verdichtet, dass „Leistung“im Sinne einer objektiven, individuel­len Größe nicht nur unter anwesenden Personen verglichen wird, sondern durch IQ-Tests oder tendenziel­l universal gemessen werden kann. Es gab verschiede­ne Faktoren, die das befördert haben: unter anderem der zunehmende Einfluss der empirische­n Wissenscha­ften und die Industrial­isierung sowie der aus beidem resultiere­nde Gedanke, die Arbeitskra­ft zunächst von Fabrikarbe­itern zu messen und zu steigern. Dazu kamen immer stärkere Verflechtu­ngen zwischen den Nationen. Die Menschen begannen, ihre Errungensc­haften auf Weltausste­llungen zu präsentier­en oder in den Olympische­n Spielen der Neuzeit gegeneinan­der anzutreten. Wer sich für die entstehend­en großen Sportereig­nisse begeistert­e, wurde schrittwei­se an den Gedanken gewöhnt, dass es individuel­le Leistungen gibt, die sich exakt bestimmen lassen, um Menschen zu hierarchis­ieren. Eine Einstellun­g, von der wir ja bis heute nicht wirklich abweichen. Verheyen:

Ein aktuelles Beispiel ist die Abiturnote. Diese mathematis­ch berechnete Zahl suggeriert enorme Präzision. Dabei ist sie zugleich Ausdruck von subjektive­n Bewertunge­n, die sehr unterschie­dlich ausfallen können Und obwohl wir das eigentlich wissen, geben wir dieser Abschlussn­ote ein unglaublic­hes Gewicht: Sie entscheide­t mit, wer auf welcher Universitä­t was studieren kann.

Was wäre die Alternativ­e? Ganz ohne Vergleichs­instrument geht es doch nicht. Verheyen:

Klar, man braucht schließlic­h Regeln und Standards. Sie erleichter­n uns den Alltag, ohne könnten wir uns gar nicht organisier­en. Ich möchte dafür sensibilis­ieWeltreko­rde ren, dass diese Regeln historisch gewachsen sind und sich ändern können. Leistung wird im Alltag immer wieder neu ausgehande­lt. Auch das meine ich mit meinem Titel „Die Erfindung der Leistung“.

Jeder versteht also etwas anderes darunter? Verheyen:

Der Begriff ist eine Unschärfef­ormel. Geht es um Potenziale oder Ergebnisse? Das Bildungsni­veau? Die Erwerbsarb­eit? Den Grad der Anstrengun­g? Den Grad des ökonomisch­en Erfolgs? Ein Beispiel: Je nach Blickwinke­l lässt sich die Leistung von Pflegern ganz unterschie­dlich interpreti­eren. Sie werden schlecht bezahlt. Aber wenn man Leistung so versteht, dass ein Mensch etwas für andere tut, dann sind Pfleger eigentlich Leistungst­räger par excellence.

Vorhin haben Sie gesagt, Leistung lasse sich einer Einzelpers­on nicht eindeutig zuordnen... Verheyen:

Individuel­le Leistung gibt es nicht, jedenfalls nicht in einem quasi-physikalis­chen Sinn. Wir handeln nicht losgelöst von anderen. Alles, was wir schaffen, basiert auf ganz breiten Unterstütz­ungsnetzwe­rken. Wir stützen uns ständig auf andere, so wie wir auch andere stützen oder stützen sollten. Das fängt in der Familie an. Das Elternhaus ist unheimlich wichtig dafür, dass Kinder bestimmte Potenziale entwickeln. Dazu kommt die Schule, einzelne Lehrer, die Schüler fördern.

Aber nicht jeder wird von seinem Umfeld gleich unterstütz­t. Verheyen:

Genau. Manche Personen können auf ein sehr großes Netzwerk zurückgrei­fen, andere nur auf ein sehr kleines. Mein Anliegen ist, dass man genau das im Hinterkopf behält: dass nicht jeder gleich unterstütz­t wird. Die Schülerin, die durchschni­ttliche Noten hat, aber zu Hause viel helfen muss, leistet also nicht unbedingt weniger als die Schülerin, die sehr gute Noten hat. Auch daraus folgt: Leistung ist eine soziale Größe.

» Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung. Hanser Berlin, 256 S., 23 € Nina Verheyen

ist Histori kerin an der Universitä­t zu Köln. Ihr Buch gehört zu den meistdisku­tierten Sachbücher­n des Frühjahrs.

 ?? Foto: FotolEdhar, Fotolia ?? Historiker­in Nina Verheyen ist der Meinung, dass Leistung keiner einzelnen Person zugeordnet werden kann. Stattdesse­n basiert alles, was Menschen schaffen, ihrer An sicht nach auf breiten Unterstütz­ernetzwerk­en.
Foto: FotolEdhar, Fotolia Historiker­in Nina Verheyen ist der Meinung, dass Leistung keiner einzelnen Person zugeordnet werden kann. Stattdesse­n basiert alles, was Menschen schaffen, ihrer An sicht nach auf breiten Unterstütz­ernetzwerk­en.
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