Koenigsbrunner Zeitung

Im Reich der Dinge

Ein Fotograf aus Wien kauft in der Provinz ein altes Haus und stellt fest: Es ist randvoll mit persönlich­en Relikten. Was sagen die aus über das Leben der beiden Vorbesitze­rinnen?

- VON MICHAEL SCHREINER

Kann man sein Leben behalten oder gar weitergebe­n, indem man Jahrzehnte alle Spuren und Dinge aufhebt, abheftet, archiviert, einlagert – alle gespielten Lottoschei­ne, alle Kalender, alle Blutdruckw­erte, alle Theaterpro­gramme, alle je getragenen Schuhe, alle handgeschr­iebenen Notizzette­l („Komme gleich“, „Bin in Kirche“), alle Kugelschre­iber, alle Bügeleisen und alle je gekauften Engelsfigu­ren? Was trieb die Cousinen Hilde und Gretl an, ihr gemeinsame­s Sein in einem Haus im niederöste­rreichisch­en Waldvierte­l in tausenden Tüten, Schachteln, Mappen, Bündeln, Schubladen und Ecken zu katalogisi­eren und inmitten dieser privaten Chronik des Banalen zu leben? Was bedeutet es, dass in einem Sparkassen­kalender von 2006 unter dem 18. Januar eingetrage­n ist: „Staubsauge­r überhitzt 2005“, also des Jahrestags eines so beiläufige­n Allerwelts­ereignisse­s gedacht wird?

Das Haus in der Reinharter­straße 100 in der Ortsmitte von Gars gibt rum häufen wir was an? Was erzählen die Hinterlass­enschaften, wenn die Besitzer tot sind? Hilde und Gretl, die das halbe 20. Jahrhunder­t eheähnlich zusammenge­lebt haben in ihrem Haus, „sammelten nichts“, schreiben die Autoren. „Es sammelte sich. Und sie ordneten dann.“

Vom „Weltinnenr­aum“der Cousinen ist die Rede, von einer „Zeitkapsel“, einem „Nest der Geborgenhe­it“. In ihrer Sichtungsa­rbeit stellen der Fotograf und der Journalist Bezüge zu Adalbert Stifter wie Thomas Bernhard her. Sie kommen zu Erkenntnis­sen wie „Der Alltag ist es, der uns fertigmach­t“und zitieren den Psychoanal­ytiker Jacques-Alain Miller: „Das Hauptprodu­kt der modernen und postmodern­en kapitalist­ischen Industrie ist der Müll.“Für die Wiener Peter Coeln und Tarek Leitner ist klar: Gretl ist die treibende Kraft gewesen in dieser Lebensgeme­inschaft. Sie hat geordnet und gesammelt, sie hat das Aufbewahre­n als Struktur und Lebensprin­zip durchgeset­zt.

Auf die Frage nach dem „Warum?“gibt es keine letztgülti­ge Antwort. Die Vergeblich­keit all dieses Aufhäufens und Bewahrens schnürt einem die Luft ab. Warum legen wir Alben an, heben Tagebücher, Briefe, Kindersach­en auf? Wann betrachtet man das je? Geht es überhaupt darum? Oder geht es nicht vor allem um das Wissen, dass das Leben nicht spurlos durchgerau­scht ist. Das persönlich­e Archiv als tröstende Indizienke­tte, die wie eine Schutzhaut gegen die Zumutungen der Vergänglic­hkeit bereitlieg­t, aber nicht übergestre­ift wird.

In einigen Passagen kommen die fremden Nachlassve­rwalter den Cousinen auch persönlich etwas näher. Beim Lesen in den Reiseberic­hten, für die Hilde zuständig war. Beim Aktenfund im Kellertres­or, wohin die Nazizeit verbannt ist und der Tod von Gretls geliebtem Bruder Toni an der Front. War es diese Verlusterf­ahrung, gegen die Gretl ein Leben lang ansammelte?

Stemmten Hilde & Gretl sich gegen die Vergänglic­hkeit?

» Hilde & Gretl. Über den Wert der Dinge. Tarek Leitner und Peter Coeln. Brandstätt­er Ver lag, 144 Seiten, 25 ¤

 ??  ?? Die Cousinen Hilde und Gretl mit ihrem Hund, den sie später sehr vermisst haben. Auch zigtausend hinterlass­ene Dinge erzählen wenig über ihre Gefühle.
Die Cousinen Hilde und Gretl mit ihrem Hund, den sie später sehr vermisst haben. Auch zigtausend hinterlass­ene Dinge erzählen wenig über ihre Gefühle.

Newspapers in German

Newspapers from Germany