Im Reich der Dinge
Ein Fotograf aus Wien kauft in der Provinz ein altes Haus und stellt fest: Es ist randvoll mit persönlichen Relikten. Was sagen die aus über das Leben der beiden Vorbesitzerinnen?
Kann man sein Leben behalten oder gar weitergeben, indem man Jahrzehnte alle Spuren und Dinge aufhebt, abheftet, archiviert, einlagert – alle gespielten Lottoscheine, alle Kalender, alle Blutdruckwerte, alle Theaterprogramme, alle je getragenen Schuhe, alle handgeschriebenen Notizzettel („Komme gleich“, „Bin in Kirche“), alle Kugelschreiber, alle Bügeleisen und alle je gekauften Engelsfiguren? Was trieb die Cousinen Hilde und Gretl an, ihr gemeinsames Sein in einem Haus im niederösterreichischen Waldviertel in tausenden Tüten, Schachteln, Mappen, Bündeln, Schubladen und Ecken zu katalogisieren und inmitten dieser privaten Chronik des Banalen zu leben? Was bedeutet es, dass in einem Sparkassenkalender von 2006 unter dem 18. Januar eingetragen ist: „Staubsauger überhitzt 2005“, also des Jahrestags eines so beiläufigen Allerweltsereignisses gedacht wird?
Das Haus in der Reinharterstraße 100 in der Ortsmitte von Gars gibt rum häufen wir was an? Was erzählen die Hinterlassenschaften, wenn die Besitzer tot sind? Hilde und Gretl, die das halbe 20. Jahrhundert eheähnlich zusammengelebt haben in ihrem Haus, „sammelten nichts“, schreiben die Autoren. „Es sammelte sich. Und sie ordneten dann.“
Vom „Weltinnenraum“der Cousinen ist die Rede, von einer „Zeitkapsel“, einem „Nest der Geborgenheit“. In ihrer Sichtungsarbeit stellen der Fotograf und der Journalist Bezüge zu Adalbert Stifter wie Thomas Bernhard her. Sie kommen zu Erkenntnissen wie „Der Alltag ist es, der uns fertigmacht“und zitieren den Psychoanalytiker Jacques-Alain Miller: „Das Hauptprodukt der modernen und postmodernen kapitalistischen Industrie ist der Müll.“Für die Wiener Peter Coeln und Tarek Leitner ist klar: Gretl ist die treibende Kraft gewesen in dieser Lebensgemeinschaft. Sie hat geordnet und gesammelt, sie hat das Aufbewahren als Struktur und Lebensprinzip durchgesetzt.
Auf die Frage nach dem „Warum?“gibt es keine letztgültige Antwort. Die Vergeblichkeit all dieses Aufhäufens und Bewahrens schnürt einem die Luft ab. Warum legen wir Alben an, heben Tagebücher, Briefe, Kindersachen auf? Wann betrachtet man das je? Geht es überhaupt darum? Oder geht es nicht vor allem um das Wissen, dass das Leben nicht spurlos durchgerauscht ist. Das persönliche Archiv als tröstende Indizienkette, die wie eine Schutzhaut gegen die Zumutungen der Vergänglichkeit bereitliegt, aber nicht übergestreift wird.
In einigen Passagen kommen die fremden Nachlassverwalter den Cousinen auch persönlich etwas näher. Beim Lesen in den Reiseberichten, für die Hilde zuständig war. Beim Aktenfund im Kellertresor, wohin die Nazizeit verbannt ist und der Tod von Gretls geliebtem Bruder Toni an der Front. War es diese Verlusterfahrung, gegen die Gretl ein Leben lang ansammelte?
Stemmten Hilde & Gretl sich gegen die Vergänglichkeit?
» Hilde & Gretl. Über den Wert der Dinge. Tarek Leitner und Peter Coeln. Brandstätter Ver lag, 144 Seiten, 25 ¤