„Wir verbrennen hier“
Über 60 Menschen sterben beim Brand in einem sibirischen Einkaufszentrum. Kinder rufen aus den Flammen verzweifelt ihre Eltern an. Das Unglück offenbart, was in Russland schiefläuft
Moskau
„Sag Mama bitte, dass ich sie liebe. Ich erreiche sie nicht. Wir verbrennen hier. Macht’s gut.“Eine Elfjährige soll ihrer Tante am Telefon solche Sätze gesagt haben, kurz bevor die Verbindung abbrach. So erzählt es später die Tante, tränenüberströmt.
Es sind Sätze eines Mädchens aus Kemerowo in Sibirien, das einen Zeichentrickfilm im Kino anschauen wollte und das noch 24 Stunden später auf einer Liste voller Namen und Altersangaben steht: vermisst nach einer Brandkatastrophe in der 500000-Einwohner-Stadt in Westsibirien, etwa 3000 Kilometer von Moskau entfernt. Mehr als 60 Menschen, darunter viele Kinder, starben in den Flammen des Einkaufszentrums namens Simnjaja Wischnja, was auf Deutsch „Winterkirsche“bedeutet. Es liegt mitten in der Stadt, mehr als 40 Personen wurden teils schwer verletzt.
Die Polizei nahm vier Menschen fest, darunter auch den Direktor der Shoppingmall. Ihnen wird Verletzung der Sicherheitsvorkehrungen vorgeworfen. Der stellvertretende Gouverneur des Gebiets sprach von einer Masse an Verstößen, was den Brandschutz des vierstöckigen Gebäudes angehe. Das staatliche Ermittlungskomitee teilte zudem mit, dass ein Wachmann den Feueralarm deaktivierte, nachdem er ein Signal über Feuer im Gebäude erhalten hatte. Warum er das tat, war zunächst nicht bekannt.
Nach ersten Untersuchungen soll ein defektes Kabel den Brand ausgelöst haben. Russlands Kinderbeauftragte sprach indes von Schlamperei und Fahrlässigkeit. Das Feuer war ersten Angaben zufolge bereits am Sonntag in der Nähe einer Spielecke im obersten Stock der Winterkirsche ausgebrochen. Zu dem Zeitpunkt saßen viele Kinder in einem der drei Kinosäle und schauten sich den Animationsfilm „Sherlock Gnomes“an. „Eine meiner Töchter rief mich an und erzählte, dass Rauch in den Saal eintrete, sie aber die Türen nicht öffnen könnten“, berichtete ein Augenzeuge der unabhängigen Internetzeitung Meduza. Der Mann verlor bei der Brandkatastrophe seine drei Kinder. Die Notausgänge seien teils blockiert gewesen, sagten Augenzeugen. Das Dach des Gebäudes, das erst im Jahr 2013 eröffnet worden war, stürzte vollständig ein.
Der Sachschaden beläuft sich offiziellen Angaben zufolge auf umgerechnet rund 40 Millionen Euro. Auch am Montag flammte das Feuer immer wieder auf. Viele Menschen in Kemerowo brachten Blumen und Kuscheltiere vor das abgeriegelte Gebäude, Psychologen kümmerten sich um Angehörige. Allerdings viel zu spät, wie viele der Bewohner beklagten. Auch das ist neben den Baumängeln und der schlechten Qualität der verwendeten Materialien im Einkaufszentrum ein Zeichen der Tragödie im Land.
Die Menschen blieben lange ohne Informationen. Kaum einer wusste, wohin er sich wenden sollte. Wollte dann ein Vertreter der lokalen Machtstrukturen etwas erklären, griff die aufgebrachte Menge ihn körperlich an. „Wir standen da und schauten unseren Kindern beim Sterben zu und uns sagte niemand, was unternommen werde, um sie zu retten“, sagte ein Vater später in die Kameras der TV-Sender und weinte dabei.