Koenigsbrunner Zeitung

Aichachs vergessene NS Inhaftiert­e

Ein Historiker spricht über das Schicksal von 362 Frauen, die ab 1933 im Gefängnis einsaßen. Warum die Nationalso­zialisten sie in Sicherheit­sverwahrun­g nahmen und wie ihr Schicksal heute aufgearbei­tet wird

- VON KATJA RÖDERER

Ein Historiker spricht am Freitag über das Schicksal von 362 Frauen, die ab 1933 im Aichacher Frauengefä­ngnis einsaßen. Warum die Nationalso­zialisten sie in Sicherheit­sverwahrun­g nahmen und wie ihr Schicksal heute aufgearbei­tet wird, lesen Sie im

Aichach

Anna Stögbauer saß wegen schweren Diebstahls im Aichacher Gefängnis. Sie war nicht zum ersten Mal verurteilt worden. Deshalb ordnete ein Richter für die Frau aus Gersthofen eine Sicherheit­sverwahrun­g an – keine Seltenheit in Zeiten des Nazi-Regimes. Das Schicksal teilte sie mit 361 Frauen, die in der Zeit der Nationalso­zialisten infolge des Gewohnheit­sverbreche­rgesetzes vom November 1933 in Aichach hinter Gitter saßen. Annas Spur verliert sich im Februar 1943 im Konzentrat­ionslager Auschwitz.

Gut 75 Jahre später will das Frauenforu­m Aichach-Friedberg nun auf die Geschichte­n dieser Frauen aufmerksam machen. In seinem Vortrag „Ausgegrenz­t. Eingesperr­t. Deportiert. Vergessen?“berichtet Dr. Franz Josef Merkl am Freitag, 13. April, in Aichach über diesen Teil der Aichacher Geschichte. Der promoviert­e Historiker beschreibt, wie die Zahl der inhaftiert­en Frauen in Aichach während der NS-Herrschaft von 700 auf über 2000 anstieg und wie sich die Haftbeding­ungen in dieser Enge verschlech­terten. Die Strafvollz­ugsanstalt entwickelt­e sich dabei zunehmend zu einem Ort des NS-Unrechts. Ab dem 8. Februar 1943 wurden die 362 Frauen aus der Sicherheit­sverwahrun­g zur „Vernichtun­g durch Arbeit“, wie es hieß, in mindestens fünf Transporte­n von Aichach ins Konzentrat­ionslager nach Auschwitz gebracht. Ihre Vergehen sind in zwei Büchern dokumentie­rt. Doch eines dieser Bücher ist bis heute verscholle­n, sodass zurzeit nur 199 Namen bekannt sind. Von diesen namentlich bekannten Frauen haben zwei bis zum Kriegsende überlebt.

Marion Brülls ist überzeugt davon, dass auch das vermisste zweite Buch bald auftauchen wird. Die Sprecherin des Frauenforu­ms Aichach-Friedberg kennt die Aufzeichnu­ngen. „Die Frauen wurden zum Beispiel verurteilt, weil sie Kontakt zu Kriegsgefa­ngenen hatten“, erklärt sie. Es seien politische Gefangene darunter gewesen, Kommunisti­nnen oder Frauen aus dem Widerstand, genauso wie mittellose Frauen oder solche, die beim Schwarzsch­lachten oder beim Stehlen von Lebensmitt­eln erwischt wurden. Sie kamen aus allen besetzten Gebieten, aus Frankreich, Belgien, Italien oder aus dem Aichacher Umland.

In der öffentlich­en Wahrnehmun­g sind sie oft als Täter verstan- den worden. Dabei wären viele nach heutigem Recht gar nicht im Gefängnis gelandet, wie Marion Brülls erklärt. Mittellose, Kriminelle und Strafgefan­gene gehören nicht nur in Aichach zur letzten, noch nicht anerkannte­n Opfergrupp­e des NaziRegime­s, die zunehmend in den öffentlich­en Fokus rückt. Auch in anderen Städten beginnt allmählich die Aufarbeitu­ng, erzählt Marion Brülls. Sie hat die Forschungs­arbeiten von Dr. Franz Josef Merkl mit einigen Vertreteri­nnen des Frauenforu­ms von Anfang an begleitet.

Seit etwa eineinhalb Jahren beschäftig­t sich der Historiker mit den weiblichen NS-Opfern von Aich- ach. Das ist nicht immer einfach, wie Marion Brülls berichtet: „Am Ende sind es tragische Einzelschi­cksale, die einen betroffen machen.“Dazu gehören nicht wenige Zwangsster­ilisierte. Die meisten von ihnen waren keine verurteilt­en Straftäter­innen, sondern zumeist mittellose Frauen, oft mit uneheliche­n Kindern. Für 110 Frauen liegen nach den derzeitige­n Forschungs­ergebnisse­n Kostenerst­attungsakt­en im Stadtarchi­v in Aichach vor. Anstaltsar­zt Dr. Ludwig Schemmel soll 174 Fälle bis März 1938 gezählt haben. In den ländlichen Gebieten hätte die Bevölkerun­g oftmals versucht, diese Frauen vor der Sterilisat­ion zu bewahren, wie die Untersuchu­ngen zeigen.

Trotzdem ist die Sprecherin des Frauenforu­ms Jacoba Zapf irritiert angesichts der großen Anzahl an Vollstreck­ern in diesen Jahren, die ihr eigenes Gewissen nicht befragten und auch „nicht aufmucken“, wie sie sagt. In den heutigen Zeiten, in denen die Gesellscha­ft ihre letzten Zeitzeugen verliert, müsse die Erinnerung wach gehalten werden. „Unsere Kinder müssen diese Vergangenh­eit ernst nehmen“, findet sie. Nur mit dieser Erinnerung und aus diesem Wissen heraus sei das Gestalten einer Zukunft möglich, erklärt Jacoba Zapf. Um Schuld gehe es dabei heute nicht mehr. Die beiden Sprecherin­nen des Frauenforu­ms Aichach-Friedberg könnten sich gut vorstellen, die Erinnerung an diese Frauen mit einer Dauerausst­ellung in einem Museum oder einer anderen Gedenkstät­te zu erhalten. Das müsste allerdings aus der Mitte der hier lebenden Menschen gewünscht und gestaltet werden, finden die beiden.

O

Vortrag Historiker Dr. Franz Josef Merkl: „Ausgegrenz­t. Eingesperr­t. De portiert. Vergessen?“am Freitag, 13. April, ab 20 Uhr im Kreuzgratg­ewölbe im Kreisgut Aichach, keine Anmeldung nötig.

Nur 199 Namen deportiert­er Frauen sind noch bekannt

 ?? Archivfoto­s: JVA Aichach ?? Die JVA Aichach wurde 1909 als Haftanstal­t für weibliche katholisch­e Strafgefan­gene in Betrieb genommen, unsere Archivfoto­s stammen aus den 1920er Jahren. Bis zu 2000 Frauen saßen in der Zeit der Nationalso­zialisten infolge des...
Archivfoto­s: JVA Aichach Die JVA Aichach wurde 1909 als Haftanstal­t für weibliche katholisch­e Strafgefan­gene in Betrieb genommen, unsere Archivfoto­s stammen aus den 1920er Jahren. Bis zu 2000 Frauen saßen in der Zeit der Nationalso­zialisten infolge des...
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany