Ein Fäkalientaucher steht im Mittelpunkt
Das Sensemble Theater Augsburg gastiert im Kulturzentrum Graben und erweckt nach den Vorgaben des Publikums eine fiktive Figur zum Leben. Warum die Blicke ins Seelenleben nicht immer komisch sind
Graben Sein Name ist Anton Cervinski, stammt aus Tschechien, sein Alter liegt um die 50, er ist eitel und liebt gut geschnittenes Haar. Er übt den seltenen Beruf des Fäkalientauchers aus, der ihn zwischen Graben und Istanbul pendeln lässt. Hin und wieder neigt er zur Euphorie. Cervinski ist ein Unikat, eine fiktive Person, die nur an diesem Abend existiert und dann für immer verschwindet.
Schauspieler Jörg Schur entwickelt diese Person nach den Vorgaben des Publikums, das für ihn nur „Das Tagebuch“darstellt, dem sich Cervinski öffnet. Unterstützt wird Schur durch Birgit Linnert, die in vielfältigen Rollen die Charakterzüge Cervinskis herauskitzelt. Als dramaturgisch wichtiges Element spielt Musiker Fred Brunner mit seiner Hintergrundmusik und Klangeffekten ebenfalls eine tragende Rolle. „Ihr seid unsere Inspirationsquelle“, spricht Schur, der seit mehr als 20 Jahren Improvisationstheater spielt, zu Beginn das Publikum anspricht und daraus die Hauptfigur in seinem Stück „I Am Schur“formt, das im März 2017 seine Premiere feierte.
Langsam öffnet er das überdimensionale Tagebuch auf der Bühne und hält die vom Publikum genannten Wesensmerkmale darin fest. Im Spiel begegnet er mal seiner überaus dominanten Mutter, dem nach Herzinfarkt den weißen Rosen von Athen verfallenen Vater, ebenso der scheuen Friseurin Barbara oder seinem um die Existenz gebrachten Arbeitskollegen Peter – alle herausragend dargestellt von Linnert. Mit der Zeit weicht die anfangs komödienhafte Darstellung in den Szenen immer mehr dem Psychogramm eines Verlierers. Jörg Schur wird durch seine grandiose schauspielerische Leistung zu Anton Cervinski. Die einzelnen Szenen, verbunden jeweils mit einem Rollenwechsel Linnert, werden durch Schur mit Selbstgesprächen auf dunkler Bühne erschaffen und bestimmen den Verlauf des Stücks. Die Stimme und das Gesicht Schurs, nur von einer Schreibtischlampe auf sonst dunkler Bühne beleuchtet, werden zu den dramaturgischen Ankerpunkten und machen ihn in der Rolle authentisch.
Mehr mit den komischen Rollen betraut, präsentiert sich Linnert als wahres Chamäleon des Schauspiels. Jede ihrer Rollen, die sie zum Teil kurzfristig durch Cervinskis Gedanken zugeteilt bekommt, erfüllt sie mit Leben und kitzelt dadurch die Charakterzüge des Protagonisten noch deutlicher aus ihm heraus. Ohne ihre Rollen käme die vom Publikum erschaffene Person bei Weitem nicht zur Geltung. Immer wieder, der jeweiligen Stimmung im Stück entsprechend, bringt sich Musiker Fred Brunner im Stile eines Kino-Pianisten aus der Stummfilmvon zeit ein, gepaart mit einem Tonmeister aus den Edgar-Wallace-Filmen der 60er-Jahre. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Kanarienvogel zwitschert, eine Tür knarrt, ein Liebeslied oder ein Werbesong für die Party eines bekannten Küchenutensilienherstellers benötigt wird.
„Das Stück ist ein absolut interessantes Format. Es ist einmalig zuzuschauen, wie Schur die Person mit all seinen Charakterzügen entwickelt und auch hinterfragt“, sagt Bürgermeister Andreas Scharf in der Pause. Düster wird es nach der Pause, als Schur alias Cervinski in einem Traum all den Menschen begegnet, die bisher in seinem Leben eine Rolle spielten. In tiefblauem Licht, zum Teil in Zeitlupe gespielt, erbringen hier Schur und Linnert die größte schauspielerische Leistung des Abends, die an Dramatik und auch Komik kaum zu überbieten sind. Cervinski begegnet seinem wirklichen „Ich“, eine Entdeckung, die für den weiteren Fortgang des improvisierten Stückes eine folgenreiche Wirkung hat.
Michael Piringer aus Haunstetten äußert sich nach dem Schlussapplaus begeistert. „Die Sprunghaftigkeit in der Dramaturgie, von rührend bis depressiv und das Wechselspiel mit dem Publikum war bestechend. Dies befreite die Schauspieler von dem sonst üblichen Theaterzwang. Eine solche Spielfreude und brillante Sprach- und Wortfindung habe ich selten erlebt“, sagte er.