„Ich bin noch lange nicht tot“
Der Schwabmünchner Andreas Ihm initiiert eine Spenden- und Informationskampagne zum Thema ALS. Sein Bruder ist daran erkrankt. Dieser erzählt aus dem Leben mit der Krankheit und seinen Gedanken im Umgang mit dem Tod
München/Schwabmünchen Vorsichtig rollt Markus Ihm mit seinem Rollstuhl an den Tisch im Wohnzimmer seines Hauses im Münchner Südosten. „Im Januar 2017 habe ich gemerkt, dass es auch mit den Armen schwieriger wird. Die Kraft hat nachgelassen, ich habe es beim Abstützen gespürt. Seit ungefähr drei Monaten wird es mit den Händen immer schwieriger. Ebenso lässt seit der Zeit die Atemkraft nach“, erzählt der 43-jährige Familienvater, bei dem im Herbst 2016 die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert wurde. Damit gehört er zu einer Gruppe von 8000 Patienten in Deutschland, von denen 2000 daran versterben. Diese neurologische Erkrankung lässt nach und nach die Muskulatur erschlaffen. Ein Heilmittel gibt es derzeit nicht.
Knapp 100 Kilometer westlich, sitzt Andreas Ihm, Bruder des Patienten, an seinem Schreibtisch in Schwabmünchen und blickt auf den Bildschirm seines Computers. „Über 400 Menschen haben mittlerweile eine Summe von 25500 Euro gespendet“, stellt er freudig fest, nachdem er die Internetseite seiner Aktion #waswuerdestdutun betrachtet. Im Dezember 2017 hatte er die Aktion mit einem Video auf dem Video-Portal Youtube gestartet. „Zu meinem Bruder habe ich immer ein gutes Verhältnis gehabt, wir haben uns ein Zimmer geteilt. Mein großer Bruder hat immer auf mich aufgepasst und war ein Vorbild für mich. Jetzt ist es an mir, ihm zur Seite zu stehen“, sagt der Social Media Manager des Bistums Augsburg.
Das Reden kostet Markus Ihm Kraft. „Das Atemvolumen wird merklich weniger. Alle zwei Wochen merke ich jetzt eine Veränderung. Auch die Nackenmuskulatur wird immer schlechter, wenn der Kopf nach vorne fällt, krieg ich ihn alleine nicht mehr hoch. Im gesamten Alltag bin ich auf Hilfe angewiesen. Ohne Frau und Pflegedienst, keine Chance. Es geht nichts mehr alleine“, beschreibt er seine derzeitige Situation und macht eine Sprechpause. Die nächste Station wird seiner Ansicht nach die Maskenbeatmung sein, später die Beatmung über eine Halskanüle. „Es ist eine grundlegende Entscheidung, ob der Patient eine Beatmung will oder nicht. Wenn man es nicht will, kann man jetzt schon über palliative Maßnahmen nachdenken“, sagt er und legt dar, dass er den Weg der Beatmung gehen wird.
Bruder Andreas Ihm berichtet, wie die Familie die Erkrankung wahrgenommen hat. „Unsere Mutter wollte Markus in Watte packen. Doch er sagte ganz pragmatisch, dass er sich von der Krankheit nicht die Familie zerstören lassen wolle“, erinnert er sich an lange Gespräche, die von normalem Sprachgebrauch und nicht von Vorsicht und Rücksicht geprägt waren. „Natürlich verändert sich die Denkweise im Verlauf der Erkrankung“, sagt der ALS-Patient. „Die Diagnose ist der Beginn der Vorbereitung auf das Sterben und den Tod. Es ist definitiv so. Und da fängt man an, darüber nachzudenken: Was hat das für Konsequenzen, warum gerade ich, was habe ich falsch gemacht, habe ich es selber verschuldet? Ich kam aber relativ schnell zu dem Punkt, dass es halt so ist. Ich habe nun zwei Möglichkeiten: in der Ecke sitzen und denken, die Welt ist furchtbar oder das Beste daraus machen. Da ich grundsätzlich eher lebensbejahend bin, ich habe ich die Entscheidung getroffen: Das Ende ist das gleiche, wähle ich den anderen Weg. Bei der Erkrankung geht der Kopf nicht kaputt, der bleibt ja fit. So arbeite ich derzeit, wenn auch mit Hilfe, in meinem Beruf als Bauingenieur“, beschreibt Ihm die Situation. „Man macht sich viele Gedanken zum Thema Tod und Sterben. Wobei ich das Thema persönlich gar nicht so schlimm finde. kann mich bewusster darauf vorbereiten als Menschen, die plötzlich einen Autounfall haben und das Thema ein Leben lang verdrängt haben“, ergänzt er.
Die Spendengelder der Aktion #waswuerdestdutun gehen laut Andreas Ihm ebenso in die Forschung. „Leider hat ALS nicht so eine Lobby wie andere Erkrankungen. Schon allein das Wissen um die Erkrankung in der Gesellschaft ist eher klein“, sagt der Kirchenmann. Da hätten Aktionen wie die Ice Bucket Challenge (IBC), neben den Spendengeldern für die Forschung, schon einiges bewirkt. Sein betroffener Bruder bewertet die Aktion etwas kritischer. „Die IBC war in USA sehr erfolgreich und hat ein wahnsinniges Bewusstsein geschaffen. Es gab viele Wohltätigkeitsveranstaltungen und Spendengelder wurden gesammelt. In Deutschland ging das Thema ALS bei der IBC etwas unter. Diese Challenges sind mittlerweile schon fast inflationär, der Bezug fehlt vielen Mitwirkenden zur ursprünglichen Sache. Es ging über den Teich etwas verloren, hierzulande wurde es mehr zum Klamauk. Das hat mit der Spendenmentalität der USA zu tun, dort ist es normal und hängt mit dem amerikanischen Sozialsystem zusammen, in dem die Menschen mehr auf sich selber angewiesen sind. Deshalb wird dort auch mehr gemacht. In USA ist ALS bekannter. Es gibt dort eine nationale Dachorganisation, in Deutschland in der Form nicht. Hier sind es eher kleinere Vereine, die lokal agieren. Es fehlt die Bündelung. Die breite Masse hat das nicht auf den Schirm. Viele denken, die Forschung wird’s schon richten, in der es zugegebenermaßen interessante Ansätze gibt. Die Studien sind allerdings besonders teuer“, beschreibt er seine Sicht. Mit „Niemals aufgeben“befindet sich einer dieser lokalen Vereine auch in Schwabmünchen (wir berichteten). Natürlich ist Andreas Ihm dort Mitglied. „Nur gemeinsam können wir etwas erreichen, Alleingänge sind gut, aber nicht so erfolgreich“, sagt er.
Markus Ihm blickt pragmatisch in die Zukunft. „Die Erkenntnisse in der Forschung nehmen zu. Für mich könnte es knapp werden. Aber weiß man’s? Man darf nicht zu enthusiastisch sein. Rein statistisch bleiben mir noch ein bis drei Jahre. Da kann noch viel passieren. Es gibt interessante Ansätze. Vielleicht gelingt es nicht nur, die Erkrankung zu stoppen, sondern den Status quo umzuIch kehren. Wir werden sehen“, sagt er hoffnungsvoll. In den 80er Jahren war Aids ein Problem. Heute hat man dort Wege gefunden. Es ist ein Hoffnungsschimmer, dass es dort gelungen ist. „Ich glaube, fast jede Krankheit ist heilbar, es ist nur die Frage des Wissens darüber. Ich bin sicher, für ALS wird es eine Lösung geben, die Frage ist nur, in welchem Zeitrahmen; und ob ich daran partizipieren kann“, schließt er ab.
Markus Ihm schätzt das Engagement seines Bruders Andreas sehr. „Gerade mein Bruder, die Eltern und meine Familie geben mir das gute Gefühl, nicht allein zu sein. Andreas hat für sich nachgedacht, wie er helfen kann. Zum einen ist es die laufende Aktion; oder als er letztes Jahr zehn Tage durchgehend bei mir war, sodass meine Frau mal Urlaub machen konnte, auch Urlaub von mir. Damals hatte sie noch die komplette Pflege übernommen. Damit hat er im Rahmen seiner Möglichkeiten die Familie unterstützt. Und das sehe ich nicht als Selbstverständlichkeit an“, sagt er.
Es sei manchmal einfacher, einen Rollstuhl zu bekommen, als die Erstattung der Kosten für das Anziehen der Kompressionsstrümpfe durch den Pflegedienst. „Die Versorgung ist in Deutschland im internationalen Vergleich sehr gut. Man muss sich allerdings auf die Hinterfüße stellen und manchmal auch die Ablehnung einer Maßnahme durch die Kasse nicht akzeptieren“, führt er weiter aus.
Zwischenzeitlich ist Arbeitsassistent David Werninger vom Münchner Verein Integration eingetroffen und baut den Computer auf dem Wohnzimmertisch auf. Markus Ihm möchte heute noch arbeiten. „Das Leben ist schon schön. 99 Prozent des Tages sind o.k. Ich versuche durch den pragmatischen Ansatz, damit umzugehen. Neben Familie, Freunden und Netzwerk ist die Hoffnung im christlichen Ansatz wichtig.“Momentan sehe er positiv nach vorne. „Ich bin noch lange nicht tot. Wenn ich nicht beatmet werde, nicht mehr reden kann, dann weiß ich allerdings nicht, wie ich dann denke. Ich versuche zu schauen, was für alle Beteiligten das Optimum ist“, sagt Markus Ihm und beginnt mit seiner Arbeit am Computer, den er mithilfe seiner Sprache und Augenbewegungen steuert.