Koenigsbrunner Zeitung

Schluss mit Deckenhöhe 2,40 Meter

Die Schweiz verwirrt. England holt aufs Dach

- Christa Sigg

Eine leere Wohnung? Die Schweizer scheinen das Motto der 16. Architektu­rbiennale bierernst genommen zu haben. Jede Menge „Freespace“– Freiraum – gibt es hier, und alles ist auch noch so klinisch weiß getüncht, dass man gleich wieder umdrehen will. Damit würde man sich allerdings um ein besonderes Erlebnis bringen, Erkenntnis­gewinn inklusive. Denn je weiter man in dieses Domizil eintaucht, desto größer oder kleiner werden Einbauschr­änke, Fenster und Türen. Mal ist man Gulliver, mal Liliputane­r – oder einfach ein Kind. Mit ihrer „Svizzera 240: House Tour“stellt das Architekte­nteam der ETH Zürich die fast weltweit herrschend­e Deckenhöhe von zwei Metern vierzig in Frage. Eine ideale Norm im Sinne Le Corbusiers ist das längst nicht mehr und war’s auch noch nie. Dafür gab es zu Recht den Goldenen Löwen.

Über das richtige Maß macht man sich auch in Cesk Krumlov, besser bekannt als Krumau, Gedanken. Die tschechisc­he Kleinstadt wird jedes Jahr von mehr als einer Million Touristen geflutet, ein normales Leben ist in diesem böhmischen Venedig unmöglich geworden. Mit dem Projekt UNES-CO („ertragen“) wird nun der Spieß umgedreht: Während der Hauptsaiso­n dürfen Gäste drei Monate umsonst im Zentrum wohnen, um – gegen Stundenloh­n – ein „demonstrat­iv normales Leben zu führen“. Ob die Liveübertr­agung ins echte Venedig Wirkung tut, ist freilich fraglich.

Die Franzosen nehmen „Lieux infinis“unter die Lupe. Gemeint sind Orte, deren Bewohnersc­haft und Nutzung sich dauernd verändern. Temporäres und Improvisie­rtes wird als Lösung prophezeit, für die Ewigkeit zu bauen, ist zumindest in diesem von Architektu­raktiviste­n geplanten Pavillon passé.

Für die britischen Nachbarn dürfte Europa bald von gestern sein. Deshalb bleibt ihr Pavillon leer, und man steigt besser gleich aufs Dach, nicht nur wegen der tollen Aussicht auf die Lagune. Wie eine versinkend­e Insel ragt oben das spitze Glasdach durch die Aussichtsp­lattform. Schwer erträglich ist dagegen das esoterisch verzerrte „Ode an die Freude“-Gedudel im belgischen Pavillon. Weil das EU-Blau des Parlaments­einbaus weiterhin glänzen soll, muss man auch noch die Schuhe ausziehen. Drinnen in dieser „Eurotopie“quält man sich durch albtraumha­fte Flugblätte­r und wechselt nur zu gerne zu den kritisch-frechen Holländern. Im typisch orangen Schrankwan­d-Interieur wird unter dem Titel „Work, Body, Leisure“unser womöglich künftiges Leben ins Visier genommen, also wenn die Arbeit weg ist und irgendwann nur noch Maschinen schuften. Was bleibt privat, was wird öffentlich? Hinter einer der Türen verbirgt sich übrigens die Amsterdame­r Hilton-Suite, in der John Lennon und Yoko Ono 1969 mit ihrem legendären „Bed-In“für den Frieden demonstrie­rt haben. Eine großartige Inszenieru­ng.

Wer „normal“lebt, darf gratis im Zentrum wohnen

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Foto: Lena Klimkeit, dpa Hingucker: Der ausgezeich­nete Pavillon der Schweiz.

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