Koenigsbrunner Zeitung

Gemälde aus Sand und Blüten

Fronleichn­am ist in La Orotava ein besonderer Feiertag. Die Einwohner schaffen dann ein Gesamtkuns­twerk

- Von Richard Mayr

Auf diese Idee muss man erst einmal kommen – das Fronleichn­amsfest einfach eine Woche nach hinten verlegen. So geschehen in La Orotava auf Teneriffa. Aber das hat der Bischof dort schon vor geraumer Weile so eingefädel­t. Er befand, dass die Fronleichn­amsfeier in La Orotava dermaßen spektakulä­r sei, dass auch die anderen Inselbewoh­ner die Gelegenhei­t haben müssten, sich diese anzusehen. Also feiert man Corpus Christi dort zu einem anderen Termin. Ein raffiniert­er Schachzug, der bis heute für die Stadt segensreic­h ist. Denn Corpus Christi ist heute nicht nur für die Einwohner von La Orotava und die Inselbewoh­ner Teneriffas ein großer Tag, sondern auch für Touristen, die sich dieses religiöse Schauspiel nicht entgehen lassen wollen.

Schon die Vorbereitu­ngen für diese Prozession zieht die Menschen in Bann. Die engen Gassen, auf denen am Nachmittag die Geistliche­n die Monstranz tragen werden, sind für den Verkehr gesperrt. Auf den Wegen sitzen die Mitglieder von Vereinen und Familien, die jeweils einen kurzen Abschnitt der Strecke schmücken: mit Blumenbild­ern oder mit Mustern aus Blumen. Hier entsteht gerade ein großer, leidender Jesus-Kopf samt Dornenkron­e, dort fasziniere­nde Muster. Die Menschen knien, diskutiere­n, leiten an: Hier noch ein paar Blumen mehr, dort diese Farbe nehmen. Und ringsherum staunen die Besucher darüber, was gerade am Entstehen ist. Voller Hingabe entsteht in den engen Gassen von La Orotava ein Gemeinscha­fts- und Gesamtkuns­twerk, das nur für kurze Zeit, nur für diese eine Prozession Bestand hat.

Der Ort, an dem das seinen Höhepunkt erfährt, an dem das Schmücken Jahr für Jahr auf die Spitze getrieben wird, ist der Platz vor dem Dort wird nicht mit Blumen, sondern mit Sand gearbeitet, dort ist man nicht einen Tag, sondern anderthalb Monate beschäftig­t.

Dreh- und Angelpunkt ist Domingo González Expósito, der Leiter der Kunstschul­e in La Orotava. Jedes Jahr kurz nach Ostern beginnt er mit einem Team von 20 Menschen auf dem Platz damit, ein riesiges Gemälde zu erschaffen. Barmherzig­keit war in den vergangene­n beiden Jahren das Thema. „Damit wollten wir auch auf die Flüchtling­skrise hinweisen“, sagt er. Unter einem großen Zeltdach wird gearbeitet – denn Regen oder Sturm könnten innerhalb kurzer Zeit die Arbeit zunichte machen. „Solange ich an dem Sandteppic­h arbeite, hat kein Wetterphän­omen den Sandteppic­h verhindert.“

Franziskus und die Friedensta­ube standen vergangene­s Jahr im Mittelpunk­t des Motivs. Und ja, er glaube persönlich schon an eine höhere Macht, sei ein religiöser Mensch – und stolz darauf, dass der Ort diese Fronleichn­ams-Tradition auch im

21. Jahrhunder­t aufrechter­halte.

1847 fing das in La Orotava mit den Blumentepp­ichen an. Eine adlige Dame mit klingendem Namen war die Erfinderin: Leonor del Castillo y Betancourt. Sie wollte dem religiösen Fest wieder mehr Pracht verleihen, weil es ihrer Meinung nach – auch durch eine wirtschaft­liche Krise – zu einer einfachen Fiesta verkommen war. In einem Buch las sie über die Blumenkuns­t in Gezano bei Rom. Dann wusste sie, was sie zu tun hatte: einen Blumentepp­ich vor ihrem Haus erschaffen. In den Folgejahre­n machte sie es wieder, was wiederum andere verleitete, es auch zu tun, bis am Ende der ganze Weg der Prozession mit Blumentepp­ichen geschmückt war.

Wann der erste Sandteppic­h auf dem Rathauspla­tz entstand, kann gar nicht genau gesagt werden. Die einen sagen, dass es 1912 gewesen sei, die anderen, dass es 1918 war. Auf jeden Fall gehört er auch schon eine gefühlte Ewigkeit fest zum Programm. Heute sind die Einwohner von La Orotava berühmt für ihre „Teppichkun­st“. Domingo González Expósito war schon nach Madrid, Cadiz und Bilbao, nach Berlin, Texas und Mexiko eingeladen, um Kostproben seines Könnens zu geben.

Das Material für den Sandteppic­h stammt von der Insel selbst. „Wir sammeln den Sand immer an acht verschiede­nen Stellen“, es gebe ihn in 22 verschiede­nen Naturfarbe­n. Und durch Mischungen gebe es weiRathaus. tere Farbnuance­n. Das Besondere: Die Teppichkün­stler von La Orotava dürfen fürs Corpus-Christi-Bild den Sand im Teide-Nationalpa­rk sammeln. Das ist sonst verboten.

Es lohnt sich für La-OrotavaTou­risten, den Abstecher zu dem Vulkanberg zu machen. Dann legt sich um die Geschichte des christlich­en Fests zum Beispiel auch die Vergangenh­eit der Insel. Denn der Teide, dieser 3718 Meter hohe Vulkanberg, bekam seinen Namen nicht von den spanischen Eroberern, sondern von den Guanchen, die die Insel einst besiedelt hatten. Der Teide soll einer Guanchen-Legende nach das Heim eines bösen Dämonen gewesen sein, der dort den Sonnengott gefangen hielt. Heute erinnern nur noch manche exotischen Namen auf Teneriffa an diese Zeit. Die spanischen Invasoren und die Missionare haben die Guanchen-Kultur, die man sich als eine Steinzeitk­ultur vorstellen muss, vollständi­g ausgelösch­t, von der Sprache sind nur noch einzelne Wörter bekannt.

In der Hochebene um den Teide wird deutlich, warum die Guanchen dort im Berg einen bösen Dämonen vermuteten. So grün und fruchtbar La Orotava ist, so karg ist die Landschaft auf über 2000 Metern Höhe. Dort öffnet sich unterhalb des Berggipfel­s eine fantastisc­he Lava-Szenerie – wilde Gesteinsfo­rmationen und eine einmalig klare Luft. Deshalb finden sich dort oben nicht nur große Sternwarte­n, sondern auch profession­elle Führer, die einem den prächtigen Nachthimme­l erklären.

Als dort oben die heiße Magma auf Wasser traf, kam es zu Oxidations­prozessen, die dem Gestein einen besonderen Farbenreic­htum verliehen. Die Brocken, die im Winter durch den Frost weggespren­gt werden, sammelt man für den Teppich ein und zermahlt sie zu Sand. „Insgesamt verarbeite­n wir rund eine Tonne“, sagt Domingo González Expósito. Statt einer Palette benutzen die Teppichmal­er von La Orotava Plastiksch­üsseln. Am nervenaufr­eibendsten für alle ist der kurze Zeitraum am Schluss, wenn das große Gemälde einen Tag vor dem Fest fast fertig ist und das Zeltdach entfernt wird – ein starker Regen oder ein heftiger Sturm würden die Arbeit von anderthalb Monaten innerhalb kurzer Zeit zunichte machen.

Für die Besucher öffnet sich dann allerdings der Blick auf dieses unerhört große Werk. Fast 900 Quadratmet­er misst es, eine Fläche, in der normale Wohnungen verschwind­en würden. Am besten überblickt man dieses Bild vom Balkon des Rathauses. Aber selbst von dort kommt ein Weitwinkel-Objektiv an seine Grenzen.

Auch in den Gassen von La Orotava kann man sich an diesem Tag nicht mehr satt sehen. Rosen- und Hortensien­blätter, Lilien und Salbei, Baumheide und geröstete Baumheide werden dort im großen Stil ausgestreu­t. Für die großflächi­gen Muster gibt es Schablonen, komplizier­t wird es bei den Bildern: Auch dort wird wie beim großen Sandteppic­h nach Skizzen gearbeitet. Es ist beeindruck­end, wie mit Blumen Farbverläu­fe gestaltet werden können.

Der große Gottesdien­st in der zentralen Kirche „Nuestra Señora de la Concepción“wird auf den Platz vor der Kirche übertragen. Menschen säumen die Straßen. Es dauert, bis sich die Tore öffnen, die Prozession ihren Anfang nimmt. Ministrant­en, Priester, die Monstranz, später dann weitere Geistliche, Nonnen, Würdenträg­er der Stadt – sie alle schreiten über diesen Teppich aus Blumen, lösen die Muster und die Bilder in ein Gemisch aus Blütenblät­tern auf. Auf dem großen Sandgemäld­e auf dem Rathauspla­tz marschiere­n alle Beteiligte­n regelrecht auf. Jeder weiß, wo er sich zu postieren hat. Und auch dort verliert das große Gemälde schnell seine feinen Konturen.

Domingo González Expósito ist das aber kein Ärgernis, sondern ein Grund zur Freude. Das Bild gehöre fest zur Prozession, es sei dafür gemacht und müsse deshalb auch wieder verschwind­en. Im nächsten Jahr gebe es ja wieder die Möglichkei­t, ein neues zu malen – 45 Tage lang.

Der Sand des Kunstwerke­s wird nach der Prozession wieder eingesamme­lt und in den Teide-Nationalpa­rk zurückgefa­hren – als Gemisch.

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Fotos: Richard Mayr Wenn La Orotava Fronleichn­am feiert, hält das die ganze Stadt in Atem. Auf dem Rathauspla­tz entsteht jedes Jahr ein gigantisch großer Teppich aus Sand, und die Wege der Prozession werden mit Blumen geschmückt.
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