Gemälde aus Sand und Blüten
Fronleichnam ist in La Orotava ein besonderer Feiertag. Die Einwohner schaffen dann ein Gesamtkunstwerk
Auf diese Idee muss man erst einmal kommen – das Fronleichnamsfest einfach eine Woche nach hinten verlegen. So geschehen in La Orotava auf Teneriffa. Aber das hat der Bischof dort schon vor geraumer Weile so eingefädelt. Er befand, dass die Fronleichnamsfeier in La Orotava dermaßen spektakulär sei, dass auch die anderen Inselbewohner die Gelegenheit haben müssten, sich diese anzusehen. Also feiert man Corpus Christi dort zu einem anderen Termin. Ein raffinierter Schachzug, der bis heute für die Stadt segensreich ist. Denn Corpus Christi ist heute nicht nur für die Einwohner von La Orotava und die Inselbewohner Teneriffas ein großer Tag, sondern auch für Touristen, die sich dieses religiöse Schauspiel nicht entgehen lassen wollen.
Schon die Vorbereitungen für diese Prozession zieht die Menschen in Bann. Die engen Gassen, auf denen am Nachmittag die Geistlichen die Monstranz tragen werden, sind für den Verkehr gesperrt. Auf den Wegen sitzen die Mitglieder von Vereinen und Familien, die jeweils einen kurzen Abschnitt der Strecke schmücken: mit Blumenbildern oder mit Mustern aus Blumen. Hier entsteht gerade ein großer, leidender Jesus-Kopf samt Dornenkrone, dort faszinierende Muster. Die Menschen knien, diskutieren, leiten an: Hier noch ein paar Blumen mehr, dort diese Farbe nehmen. Und ringsherum staunen die Besucher darüber, was gerade am Entstehen ist. Voller Hingabe entsteht in den engen Gassen von La Orotava ein Gemeinschafts- und Gesamtkunstwerk, das nur für kurze Zeit, nur für diese eine Prozession Bestand hat.
Der Ort, an dem das seinen Höhepunkt erfährt, an dem das Schmücken Jahr für Jahr auf die Spitze getrieben wird, ist der Platz vor dem Dort wird nicht mit Blumen, sondern mit Sand gearbeitet, dort ist man nicht einen Tag, sondern anderthalb Monate beschäftigt.
Dreh- und Angelpunkt ist Domingo González Expósito, der Leiter der Kunstschule in La Orotava. Jedes Jahr kurz nach Ostern beginnt er mit einem Team von 20 Menschen auf dem Platz damit, ein riesiges Gemälde zu erschaffen. Barmherzigkeit war in den vergangenen beiden Jahren das Thema. „Damit wollten wir auch auf die Flüchtlingskrise hinweisen“, sagt er. Unter einem großen Zeltdach wird gearbeitet – denn Regen oder Sturm könnten innerhalb kurzer Zeit die Arbeit zunichte machen. „Solange ich an dem Sandteppich arbeite, hat kein Wetterphänomen den Sandteppich verhindert.“
Franziskus und die Friedenstaube standen vergangenes Jahr im Mittelpunkt des Motivs. Und ja, er glaube persönlich schon an eine höhere Macht, sei ein religiöser Mensch – und stolz darauf, dass der Ort diese Fronleichnams-Tradition auch im
21. Jahrhundert aufrechterhalte.
1847 fing das in La Orotava mit den Blumenteppichen an. Eine adlige Dame mit klingendem Namen war die Erfinderin: Leonor del Castillo y Betancourt. Sie wollte dem religiösen Fest wieder mehr Pracht verleihen, weil es ihrer Meinung nach – auch durch eine wirtschaftliche Krise – zu einer einfachen Fiesta verkommen war. In einem Buch las sie über die Blumenkunst in Gezano bei Rom. Dann wusste sie, was sie zu tun hatte: einen Blumenteppich vor ihrem Haus erschaffen. In den Folgejahren machte sie es wieder, was wiederum andere verleitete, es auch zu tun, bis am Ende der ganze Weg der Prozession mit Blumenteppichen geschmückt war.
Wann der erste Sandteppich auf dem Rathausplatz entstand, kann gar nicht genau gesagt werden. Die einen sagen, dass es 1912 gewesen sei, die anderen, dass es 1918 war. Auf jeden Fall gehört er auch schon eine gefühlte Ewigkeit fest zum Programm. Heute sind die Einwohner von La Orotava berühmt für ihre „Teppichkunst“. Domingo González Expósito war schon nach Madrid, Cadiz und Bilbao, nach Berlin, Texas und Mexiko eingeladen, um Kostproben seines Könnens zu geben.
Das Material für den Sandteppich stammt von der Insel selbst. „Wir sammeln den Sand immer an acht verschiedenen Stellen“, es gebe ihn in 22 verschiedenen Naturfarben. Und durch Mischungen gebe es weiRathaus. tere Farbnuancen. Das Besondere: Die Teppichkünstler von La Orotava dürfen fürs Corpus-Christi-Bild den Sand im Teide-Nationalpark sammeln. Das ist sonst verboten.
Es lohnt sich für La-OrotavaTouristen, den Abstecher zu dem Vulkanberg zu machen. Dann legt sich um die Geschichte des christlichen Fests zum Beispiel auch die Vergangenheit der Insel. Denn der Teide, dieser 3718 Meter hohe Vulkanberg, bekam seinen Namen nicht von den spanischen Eroberern, sondern von den Guanchen, die die Insel einst besiedelt hatten. Der Teide soll einer Guanchen-Legende nach das Heim eines bösen Dämonen gewesen sein, der dort den Sonnengott gefangen hielt. Heute erinnern nur noch manche exotischen Namen auf Teneriffa an diese Zeit. Die spanischen Invasoren und die Missionare haben die Guanchen-Kultur, die man sich als eine Steinzeitkultur vorstellen muss, vollständig ausgelöscht, von der Sprache sind nur noch einzelne Wörter bekannt.
In der Hochebene um den Teide wird deutlich, warum die Guanchen dort im Berg einen bösen Dämonen vermuteten. So grün und fruchtbar La Orotava ist, so karg ist die Landschaft auf über 2000 Metern Höhe. Dort öffnet sich unterhalb des Berggipfels eine fantastische Lava-Szenerie – wilde Gesteinsformationen und eine einmalig klare Luft. Deshalb finden sich dort oben nicht nur große Sternwarten, sondern auch professionelle Führer, die einem den prächtigen Nachthimmel erklären.
Als dort oben die heiße Magma auf Wasser traf, kam es zu Oxidationsprozessen, die dem Gestein einen besonderen Farbenreichtum verliehen. Die Brocken, die im Winter durch den Frost weggesprengt werden, sammelt man für den Teppich ein und zermahlt sie zu Sand. „Insgesamt verarbeiten wir rund eine Tonne“, sagt Domingo González Expósito. Statt einer Palette benutzen die Teppichmaler von La Orotava Plastikschüsseln. Am nervenaufreibendsten für alle ist der kurze Zeitraum am Schluss, wenn das große Gemälde einen Tag vor dem Fest fast fertig ist und das Zeltdach entfernt wird – ein starker Regen oder ein heftiger Sturm würden die Arbeit von anderthalb Monaten innerhalb kurzer Zeit zunichte machen.
Für die Besucher öffnet sich dann allerdings der Blick auf dieses unerhört große Werk. Fast 900 Quadratmeter misst es, eine Fläche, in der normale Wohnungen verschwinden würden. Am besten überblickt man dieses Bild vom Balkon des Rathauses. Aber selbst von dort kommt ein Weitwinkel-Objektiv an seine Grenzen.
Auch in den Gassen von La Orotava kann man sich an diesem Tag nicht mehr satt sehen. Rosen- und Hortensienblätter, Lilien und Salbei, Baumheide und geröstete Baumheide werden dort im großen Stil ausgestreut. Für die großflächigen Muster gibt es Schablonen, kompliziert wird es bei den Bildern: Auch dort wird wie beim großen Sandteppich nach Skizzen gearbeitet. Es ist beeindruckend, wie mit Blumen Farbverläufe gestaltet werden können.
Der große Gottesdienst in der zentralen Kirche „Nuestra Señora de la Concepción“wird auf den Platz vor der Kirche übertragen. Menschen säumen die Straßen. Es dauert, bis sich die Tore öffnen, die Prozession ihren Anfang nimmt. Ministranten, Priester, die Monstranz, später dann weitere Geistliche, Nonnen, Würdenträger der Stadt – sie alle schreiten über diesen Teppich aus Blumen, lösen die Muster und die Bilder in ein Gemisch aus Blütenblättern auf. Auf dem großen Sandgemälde auf dem Rathausplatz marschieren alle Beteiligten regelrecht auf. Jeder weiß, wo er sich zu postieren hat. Und auch dort verliert das große Gemälde schnell seine feinen Konturen.
Domingo González Expósito ist das aber kein Ärgernis, sondern ein Grund zur Freude. Das Bild gehöre fest zur Prozession, es sei dafür gemacht und müsse deshalb auch wieder verschwinden. Im nächsten Jahr gebe es ja wieder die Möglichkeit, ein neues zu malen – 45 Tage lang.
Der Sand des Kunstwerkes wird nach der Prozession wieder eingesammelt und in den Teide-Nationalpark zurückgefahren – als Gemisch.