Heute entscheidet sich das Schicksal der Union
70 Prozent der Bayern sind für einen Bruch mit der Schwesterpartei, wenn sich die CSU in der Asylfrage nicht durchsetzt
Berlin
Kanzlerin Angela Merkel will in den nächsten Tagen mit einzelnen EU-Staaten Abkommen zur Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze abschließen. Sie versucht damit auch, den Streit mit der Schwesterpartei CSU über die Asylpolitik zu entschärfen. Die CDUVorsitzende kam am Sonntag mit der engeren Parteiführung zu Beratungen über das Vorgehen in dem Streit zusammen. Heute könnte ein Schicksalstag für die Union werden.
Das wahrscheinlichste Szenario ist nach Informationen unserer Zeitung, dass Innenminister Horst Seehofer (CSU) mit Rückendeckung seiner Partei die Zurückweisung von Flüchtlingen, die in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt haben, anordnet. Bis zur Klärung aller rechtlichen und organisatorischen Fragen würden aber noch zwei Wochen vergehen. Das wäre genau der Zeitraum, den Merkel für die von ihr angestrebte Lösung auf europäischer Ebene fordert. Diese Informationen stützen sich auf ein hochrangiges Mitglied der Unions-Bundestagsfraktion.
Im Freistaat genießt die CSUSpitze Rückendeckung für ihre Haltung. Mehr als zwei Drittel (70,6 Prozent) der Bevölkerung in Bayern sind der Ansicht, dass die CSU die Große Koalition aufkündigen müsse, wenn sie sich nicht durchsetzt, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen. Das hat eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag unserer Zeitung ergeben. Bundesweit ist nach einer anderen Civey-Umfrage immerhin mehr als die Hälfte der Menschen (53,1 Prozent) dafür, dass die CSU die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU an der Flüchtlingsfrage scheitern lassen solle.
Im Asylstreit soll Seehofer in einer kleinen Runde aus CSU-Politikern wie Landesgruppenchef Alexander Dobrindt über Merkel gesagt haben: „Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten.“Innerhalb der CSU gibt es auch kritische Stimmen zum Seehofer-Kurs. Der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier schrieb in einem Brief an die CSU-Landesgruppe: „Seid ihr denn alle verrückt geworden?“Wenn die Fraktionsgemeinschaft aufgekündigt werde, könne die CDU in Bayern als eigenständige Partei auftreten. Die Vorherrschaft der CSU wäre dann im Freistaat „definitiv zu Ende“. Und der frühere Landtagsabgeordnete aus dem Stimmkreis Günzburg fügte hinzu: „Mit der Auflösung der Fraktionsgemeinschaft drohen, heißt also mit dem eigenen Selbstmord drohen.“
Der Augsburger CSU-Bundestagsabgeordnete Volker Ullrich warnte entschieden vor der drohenden Spaltung der Unions-Fraktion im Bundestag. „Wer die Einheit von CDU und CSU oder die Handlungsfähigkeit der Regierung aufs Spiel setzt, handelt unverantwortlich“, warnte er im Gespräch mit unserer Zeitung. Auch in der FDP beschäftigen sich Politiker wie Partei-Vize Wolfgang Kubicki mit dem Thema. Unserer Zeitung sagte er: „Trotz einiger Beschwichtigungsversuche aus den Reihen der CDU scheint das Tischtuch zwischen Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer endgültig zerschnitten.“Ein Eintritt in eine CDU/SPD-Regierung unter Angela Merkel sei für die Freien Demokraten ausgeschlossen. Kubicki: „Wir sind nicht der Notnagel einer verfehlten Politik.“
„Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten.“Horst Seehofer
Alles ist möglich, nichts wird mehr ausgeschlossen. Die neue Regierung ist noch keine 100 Tage im Amt, da steht sie fast schon vor dem Aus. So sehr haben sich CDU und CSU im Streit um den Masterplan von Horst Seehofer ineinander verharkt, dass selbst das bislang Undenkbare laut gedacht wird: CDU und CSU gehen getrennte Wege und kündigen die Fraktionsgemeinschaft auf, mehr noch, die CDU tritt bei der Landtagswahl in Bayern an und macht damit endgültig alle Hoffnungen der CSU auf eine Verteidigung der absoluten Mehrheit zunichte. Bislang nur Gedankenspiele, wohl wahr, aber allein dass sie ausgesprochen werden, belegt den Ernst der Lage in Berlin.
Der heutige Montag könnte zum Schicksalstag von Horst Seehofer und Angela Merkel werden. Fast schon wie in einer griechischen Tragödie ist ihr Schicksal untrennbar miteinander verwoben. Wenn der CSU-Chef und Innenminister tatsächlich seinen Worten Taten folgen lässt und noch am Montag die Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze anordnet, provoziert er die Entlassung durch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Doch mit seinem Sturz reißt Seehofer auch die Regierungschefin in die Tiefe. Es wäre das unrühmliche Ende ihrer Kanzlerschaft. Misstrauensvotum und Auflösung des Bundestags würden folgen, kaum vorstellbar, dass sie bei den dann notwendig werdenden Neuwahlen noch einmal antritt. Jenseits des aktuellen Streits mit der CSU ist in der CDU die Erkenntnis weitverbreitet, dass man nur ohne Merkel eine Chance bei Neuwahlen hat. Im Augenblick spräche alles für Annegret Kramp-Karrenbauer.
Es ist mehr als eine Auseinandersetzung zwischen Horst Seehofer und Angela Merkel, deren komplizierte Beziehung schon seit langem die Regierungsarbeit überschattet, es ist auch mehr als nur ein Streit um einen Aspekt der Flüchtlingspolitik. Die Frage, ob Deutschland das Recht – und sogar die Pflicht! – hat, Flüchtlinge zurückzuweisen, legt einen fundamentalen Dissens zwischen den beiden Schwesterparteien offen. Wenn der neue bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagt, die Zeit des „geordneten Multilateralismus“sei vorbei, legt er die Axt an die Wurzel der bisherigen Europapolitik der Union, die Angela Merkel verzweifelt zu retten versucht. Unverdrossen kämpft sie für eine europäische Lösung, obwohl diese bereits seit Jahren versprochen wird und sich auch im Vorfeld des EU-Gipfels in zwei Wochen nicht abzeichnet.
Merkels persönliche Tragik ist, dass sie nach zwölf Jahren im Amt wie aus der Zeit gefallen, müde und ratlos wirkt. In einer Welt, in der nicht nur Trump, Putin und Erdogan, sondern auch immer mehr europäische Partner auf den starken Nationalstaat und Alleingänge setzen, verkörpert nicht mehr sie, sondern Markus Söder den neuen Zeitgeist. Dabei ist völlig offen, ob dieses neue nationale Muskelspiel zu besseren Ergebnissen und langfristigen Lösungen führt, doch als Alternative zum mutlosen, sich in endlosen Verhandlungen erschöpfenden Multilateralismus wirkt es erfrischend und unverbraucht.
Was heißt das für CDU und CSU? Der aktuelle Streit legt die tektonischen Verschiebungen offen. Mehr Europa? Oder mehr Deutschland? Gemeinsame Lösungen oder nationale Alleingänge? Es geht um Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt. Darum ist dieser Konflikt so heftig. Und darum muss er auch ausgetragen werden. Notfalls müssen CDU und CSU getrennte Wege gehen. Was im restlichen Europa längst geschehen ist, erreicht nun auch mit Verzögerung Deutschland: Die Parteienlandschaft zerbricht und sortiert sich neu. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
Angela Merkel wirkt wie aus der Zeit gefallen