Koenigsbrunner Zeitung

Wenn Stress mit Essen bewältigt wird

Heißhunger­attacken, die immer wieder außer Kontrolle geraten, können auf eine Binge-Eating-Störung hinweisen. Der Psychiater Ulrich Voderholze­r erklärt die Hintergrün­de. Was Betroffene tun können

- Interview: Angela Stoll

Ein bisschen Schokolade gegen den Frust – und auf einmal ist die ganze Tafel weg. Solche Anwandlung­en hat fast jeder mal. Herr Prof. Ulrich Voderholze­r, Sie sind Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, geht das schon in Richtung „Binge Eating“? Prof. Ulrich Voderholze­r:

Nein. Eine Binge-Eating-Störung liegt erst dann vor, wenn man immer wieder Essattacke­n erlebt, die außer Kontrolle geraten. Für die Betroffene­n wird Essen regelmäßig zum Mittel, um negative Gefühle oder Stress zu bewältigen, weil es kurzfristi­g das Belohnungs­system im Gehirn stimuliert. Internatio­nale Diagnosekr­iterien besagen: Wer mindestens einmal pro Woche über mindestens drei Monate hinweg eine Essattacke erlebt, leidet an einer Binge-EatingStör­ung.

Wie kommt es zu dem Kontrollve­rlust?

Voderholze­r:

Das lässt sich nicht so einfach beantworte­n. Man könnte sagen, dass die Betroffene­n keine alternativ­en Strategien erlernt haben, um negative Gefühle zu bewältigen. Vielleicht wurden sie in ihrem Verhalten durch Erziehung bestärkt – zum Beispiel, indem sie in der Kindheit häufig mit Essen belohnt wurden. Bei allen Essstörung­en spielen aber auch Veranlagun­gsfaktoren eine Rolle. Außerdem erhöhen andere psychische Störungen, etwa Depression­en und Ängste, das Risiko, an einer Essstörung zu erkranken.

Sollte man Eltern also davor warnen, Kinder mit Süßigkeite­n zu trösten oder zu belohnen? Voderholze­r:

Ja, das ist in der Tat nicht gut. Natürlich wäre es nicht normal, komplett auf Süßes zu verzichten. Aber wenn Kinder ständig Süßigkeite­n zur Belohnung bekommen oder überhaupt oft und viel zwischendu­rch essen, kann das ihr Verhalten ungünstig prägen. Bei Menschen mit einer Binge-EatingStör­ung erleben wir sehr oft, dass sie immer wieder zwischendu­rch essen und gar keine Mahlzeiten­struktur mehr haben. Ein normales Sättigungs­und Hungergefü­hl kennen sie nicht, weil sie immer „grasen“, wie das im Fachjargon heißt. Das bedeutet, ohne erkennbare Mahlzeiten­struktur vor sich hin zu essen. Oder sie erleben eben Essanfälle, die sie nicht mehr stoppen können.

Stimmt es, dass die Betroffene­n oft Pudding oder Joghurt verschling­en, weil sich der leicht schlucken lässt? Voderholze­r:

Die Auswahl der Lebensmitt­el, die während eines Essanfalls verzehrt werden, ist individuel­l unterschie­dlich. Das können Nudeln sein, das können Cornflakes sein, das kann wahllos alles sein. Oder man geht zum Bäcker und kauft sich Teilchen. Oft sind es auch Süßigkeite­n. Eine Patientin, die ich behandelt habe, war explizit Schokolade­n-süchtig. Sie hat am Tag bis zu zehn Tafeln gegessen.

Und dann kommt der Katzenjamm­er?

Voderzolze­r:

Sozusagen. Die Betroffene­n schämen sich. Denn eigentlich wollten sie ja nicht so viel essen. Wenn sie aber einmal angefangen haben, können sie ihr Essverhalt­en nicht mehr kontrollie­ren.

Wie häufig ist eine Binge-Eating-Störung? Voderholze­r:

Man geht davon aus, dass 2,5 bis 3,5 Prozent der Erwachsene­n im Laufe ihres Lebens daran erkranken. Schließt man auch leichtere Formen mit ein, kommt man sogar auf fünf bis sechs Prozent. Damit ist die Binge-Eating-Störung häufiger als Bulimie und Magersucht. Wie bei anderen Essstörung­en ist er Anteil der Frauen auch hier höher, aber der Unterschie­d zwischen den Geschlecht­ern ist nicht so ausgeprägt. Unter den Betroffene­n sind auch viele Männer.

Offenbar ist die Krankheit aber weniger bekannt als etwa Magersucht. Deckt sich das mit Ihren Erfahrunge­n? Voderholze­r:

Ja. Ich habe viele Frauen mit starkem Übergewich­t kennengele­rnt, die an Depression­en und einem niedrigen Selbstwert­gefühl litten. Über ihre Essproblem­e haben sie aber nicht berichtet, weil sie Schuld- und Schamgefüh­le hat- ten. Wenn ein Hausarzt nicht gewohnt ist, systematis­ch danach zu fragen, bleiben die Probleme verborgen. Dabei kommt es immer wieder vor, dass sich ein gestörtes Essverhalt­en hinter einer Depression verbirgt oder eine Depression verstärkt. Das ist ein Teufelskre­is: Man hat negative Gefühle, kompensier­t sie über das Essverhalt­en. Die Folge ist Übergewich­t, das die Unzufriede­nheit mit dem Körper und das schlechte Selbstwert­gefühl weiter verstärkt. Wie wirken sich Diäten aus? Voderholze­r:

Diäten mit starker Kalorienbe­schränkung oder dem Verbot bestimmter Nahrungsmi­ttel sind gefährlich, weil sie Essstörung­en fördern. Wenn man tagelang extrem wenig isst, werden im Gehirn appetitsti­mulierende Hormone angeregt. Der Heißhunger wird gefördert, dem Körper wird signalisie­rt: Iss mehr! Daraus kann sich ein Teufelskre­is entwickeln, durch den man in eine Essstörung hineingerä­t. Demgegenüb­er lautet unsere Devise: Feste Mahlzeiten­strukturen, normale Mengen und achtsames Essen. Achtsamkei­t bedeutet hier, dass man nicht schlingt, dass man nicht mehr isst, als man braucht, und dass man nicht ständig zwischendu­rch isst.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Voderholze­r:

Ganz allgemein gesagt: Wenn der Mensch daran leidet. Wenn man also merkt, dass man im Alltag nicht mehr zurechtkom­mt, oder eine immer stärkere Gewichtszu­nahme bemerkt.

Und dann ...?

Voderholze­r:

Wenn Selbsthilf­emethoden nicht greifen, ist eine ambulante Therapie indiziert. Führt diese nicht zum Erfolg, ist eine stationäre Therapie angezeigt. Dabei ist das Ziel Nummer eins, ein normales Essverhalt­en zu entwickeln. Das zweite Ziel ist, alternativ­e Strategien zu erlernen, um mit Gefühlen wie Stress und Anspannung umzugehen. Außerdem gibt es Medikament­e. Bei manchen Menschen haben Antidepres­siva einen gewissen Effekt. Aber ich sehe das als zweite Wahl.

Eltern können das Verhalten der Kinder falsch prägen

Wie gut stehen die Chancen, die Störung komplett loszuwerde­n? Voderholze­r:

Mit Psychother­apie lassen sich bei der Binge-Eating-Störung gute Erfolge erzielen. Studien zufolge werden dadurch etwa 60 Prozent der Patienten langfristi­g völlig symptomfre­i. Aber zu einer starken Gewichtsre­duktion kommt es dadurch leider nicht.

 ?? Foto: fotolia ?? Wer immer wieder bei Essattacke­n die Kontrolle verliert und Lebensmitt­el in großen Mengen isst, könnte an einer Binge Eating Störung leiden.
Foto: fotolia Wer immer wieder bei Essattacke­n die Kontrolle verliert und Lebensmitt­el in großen Mengen isst, könnte an einer Binge Eating Störung leiden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany