Ein Bahnwärterhäuschen ohne Schienen
Hinter dem Gewerbegebiet steht ein Stück verlorene Verkehrsgeschichte, um das sich Legenden ranken / Serie (8)
Augsburg/Friedberg
Versteckt unter Wildwuchs hinter einem kleinen Gewerbegebiet an der Meringer Straße in Augsburg steht ein stummer Zeitzeuge historischer Tage. Das Gebäude mit der Hausnummer
110c liegt nicht zufällig nah an den Gleisen. Als die erste bayerische Eisenbahnlinie zwischen München und Augsburg
1840 den Betrieb aufnahm, war an dieser Stelle ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt des Verkehrswesens der Zukunft.
Wobei die „Zukunft“damals bedeutete: Die Reise von der schwäbischen Metropole in die bayerische Landeshauptstadt dauerte zweieinhalb Stunden. Immerhin deutlich schneller als die Alternative: Für die Anreise per Kutsche nach München musste man zehn Stunden rechnen.
Beim Stierhof wurde ein erster Haltepunkt errichtet – der Vorläufer des heutigen Bahnhofs in Hochzoll. Wo die Bahnstation stehen sollte, darüber wurde damals heftigst diskutiert. Der Historiker Dr. Hubert Raab, seines Zeichens Kreisheimatpfleger Aichach-Friedberg, weiß, dass sich die Friedberger Bürger vehement gegen eine Bahnlinie durch den Ort wehrten, während Kaufleute sich dafür einsetzten.
Letztere sahen in einer direkten Bahnstrecke durch Friedberg die Chance, den Warentransport drastisch zu beschleunigen. Letztlich wurde der Stierhof in der Friedberger Au als Haltepunkt auserkoren.
Ein Empfangsgebäude, wie man sich das heute vorstellt, war die Bahnstation Stierhof nicht. Die Reisenden verkürzten sich die Wartezeiten eher in der dazugehörigen Bahnhofswirtschaft. Der Bahnhofsvorsteher war für die Weichenstellung des Durchfahrts- und des Ladegleises ebenso zuständig wie für das Frachtgut und die Fahrkarten. 1875 wurde die Bahnstation verlegt.
Mit Inbetriebnahme der Paartalbahn wurde der neue Bahnhof Hochzoll eingeweiht und der Haltepunkt Stierhof aufgelassen. Nichts von dieser bewegten Geschichte sieht man dem Gebäude im Gebüsch hinter der Meringer Straße an. Vinzenz Mayr senior von Blumen Viola lebt in der Nachbarschaft und erinnert sich, dass zwei ehemalige DBMitarbeiterinnen das Haus an der Meringer Straße nach der Privatisierung der Bahn seit den Neunziger Jahren als Wochenendhäuschen genutzt hatten. Mayr ist Gründungsmitglied der Augsburg-Hochzoller Eisenbahnfreunde. Auch Mayr kann die Frage nicht beantworten, ob es sich bei dem Gebäude in der Wildnis auf der anderen Straßenseite wirklich um das historische, für Wohnzecke komplett umgebaute Gebäude aus der Pionierzeit der Strecke Augsburg–München handelt. „Baujahr unbekannt“, lautete das Fazit der Wertermittler, die das Gebäude im Auftrag des Bundeseisenbahnvermögens (BEV) begutachteten. Geschätzt wurde es auf Baujahr
1945. Laut Plänen aus dem Jahr
1958 handelt es sich um das ehemalige Bahnwärterhäuschen.
Derzeit steht das Haus leer. Gekauft wurde es vor zwei Jahren von der Diakonie Augsburg. Wie das Gebäude zukünftig genutzt wird, steht noch zur Diskussion.