Wie man sich Wohlstand durch Totschlag erkauft
Theater Ingolstadt In Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“wird ein Dorf zum Raubtier. Der Lohn: eine Milliarde
Ingolstadt
Was ist ein Menschenleben wert? Das Leben eines Kriegsoder Wirtschaftsflüchtlings, das Leben eines Grenzsoldaten, eines Auffanglager-Chefs, eines Kabinettsmitglieds, einer Staatsspitze? In Italien, Deutschland, USA? Der Frage folgt im Allgemeinen die Beteuerung: Alle Menschen sind gleich viel wert. So viel zur Theorie des Humanen.
Der Lebensmittelhändler Alfred Ill ist eine Milliarde wert. Genauer: nicht das Leben Ills, sondern sein Tod. Die Dorfgemeinschaft von Güllen, lauter Abgehängte, erhält eine Milliarde, wenn er stirbt. Ausgelobt von der emporgekommenen Multi-Milliardärin Claire Zachanassian, die Ill vor 45 Jahren in Güllen schwanger sitzengelassen hatte, um dann auch noch seine Vaterschaft vor Gericht durch doppelten Meineid erfolgreich abstreiten zu lassen.
Nun aber kommt Claire wieder – und wird sich Gerechtigkeit, Strafe, Hinrichtung kaufen. Mit einer Milliarde. Erst lehnt die Dorfgemeinschaft ihr Angebot empört ab, beteuert, dass man ja wohl noch in Europa lebe und nicht zu den Heiden gehöre. Dann aber fängt sie an, mit ein bisschen Wohlstand zu liebäu- geln. Sie lässt es sich auf Pump gut gehen, wird wankelmütig – und gerät in Zugzwang. Wer den geliehenen und geliebten Wohlstand halten will, braucht – bei aller beteuerten Moral – Geld. Da kann auch mal einer über den Jordan gehen. Ill, vor kurzem noch als nächster Bürgermeister vorgesehen, muss weg. Eine korrumpierte Menge meuchelt ihn – mit Einverständnis des Pfarrers, ja der eigenen Familie.
Friedrich Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ist eine Tragikomödie, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleiben soll. Und es ist eines jener wenigen Stücke, bei dem es von Vorteil ist, den bitterbösen Schluss zu kennen, um von Beginn an die vielen Doppeldeutigkei- ten und Heucheleien sofort zu durchschauen. Das Theater Ingolstadt hat es nun zur Freilichtsaison von Ansgar Haag, dem langjährigen Ulmer Intendanten, im Turm Baur inszenieren lassen – und damit deutlich mehr geboten als ein reines sommerliches Amüsierstück.
Auch wenn Haag das Dorf Güllen regionalisierend ins katholische Oberbayern versetzt, viel Musik unterlegen lässt und ab und zu mit dem Bauernschwank kokettiert (eine Maß auf Ex, der Pfarrer als Schürzenjäger): Sinn und Ernst des Stücks bleiben gewahrt. Ja, das Makabre steigert sich, und wenn gleichsam über die Hinrichtung Ills abgestimmt wird und wenn sich ein bedrohlicher Kreis um den Delinquenten schließt und wenn dann jeder der Scharfrichter nur einen winzigen Teil zum Mord beizutragen hat und wenn dann nach vollzogener arger Tat sich die Dorfgemeinschaft wie arglos wieder zerstreut, dann würde man die berühmte fallende Stecknadel hören, wenn nicht die Musik Crescendo-Suspense liefern würde. Starke Wirkung.
Sascha Römisch (Alfred Ill) steigert sich einen Abend lang: Als sich schließlich Ergebender packt er mehr als noch um sein Leben Kämpfender. Ingrid Cannonier spielt Claire Zachanassian ansprechend ambivalent, doch der Umschlag von angetäuschter Romantik/ Nostalgie hin zu Härte, Kälte, Unerbittlichkeit könnte krasser noch erfolgen. Jedenfalls gilt: ein lohnender Abend.
ONoch
14 Vorstellungen bis 21. Juli