Gemeinsam einsam im Kanzleramt
Große Koalition Der erbitterte Asyl-Streit zwischen Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer wird für die Regierung zu einer immer größeren Belastung. SPD und Opposition sind genervt. Immerhin in einem Punkt gelingt eine Einigung
Berlin
Die lange Nacht im Kanzleramt hat die Spitzen von CDU und CSU einander nicht nähergebracht. Nach dem Ende des knapp vierstündigen Koalitionsausschusses am frühen Mittwochmorgen fahren die Teilnehmer in schwarzen Limousinen davon, ohne eine gemeinsame Erklärung wie sonst üblich. Erst am nächsten Tag äußern sich einige von ihnen – aber getrennt voneinander. Dabei wird deutlich: Im Streit zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) über die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze ist keine Entspannung in Sicht. Und die SPD sieht mit wachsendem Entsetzen zu, wie sich die Unionsschwestern immer feindseliger gegenüberstehen.
Einigen kann sich die Koalition immerhin beim Baukindergeld. Die Förderung kommt nun wie im Koalitionsvertrag geplant ohne die zuletzt im Raum stehende Wohnflächenobergrenze. Allerdings wird sie nur in den Jahren 2018 bis 2020 ge- zahlt. Doch der Kompromiss kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie explosiv die Stimmung ist.
Am Mittwoch sagt Seehofer am Rande einer Sitzung des Innenausschusses des Bundestags, dass es in der Streitfrage, ob Flüchtlinge, die bereits in anderen EU-Staaten registriert sind, an der Grenze zurückgewiesen werden dürfen, keinerlei Fortschritte gebe. Seehofers „Masterplan Migration“sieht dies als eine von 63 Maßnahmen vor, doch die Kanzlerin ist entschieden dagegen. Sie will bis zum Wochenende eine europäische Lösung erreichen, gelingt ihr dies nicht, will Seehofer die Zurückweisung anordnen.
Bereits am Sonntag, bekräftigt Seehofer, werde die Frage entschieden. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt spricht von einer „angespannten Lage“. Wenn nötig werde Deutschland auch im nationalen Alleingang an den Grenzen zurückweisen. In der CSU ist trotz einiger versöhnlicher Signale in den vergangenen Tagen klar: Mit einer weiteren Verschiebung einer europäischen Lösung in der Asylpolitik wird sich die Partei nicht zufriedengeben. Die Bundeskanzlerin, so ein hochrangiger Christsozialer zu unserer Zeitung, müsse „echte, konkrete, wirksame Maßnahmen“vom EU-Gipfel in Brüssel mitbringen, der am Donnerstag beginnt.
Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) bestätigt, dass es beim Koalitionsgipfel keine Einigung im Asylstreit gab, eine solche sei auch gar nicht zu erwarten gewesen, da die Parteigremien von CDU und CSU erst am Sonntag tagen. Kauder: „Es ist sehr ernst, das hat man gestern auch in den Gesprächen gemerkt.“Wie ernst die CDU-Spitze die Lage tatsächlich einschätzt, zeigt sich auch daran, dass hinter den Kulissen massive Bemühungen laufen, die eigenen Abgeordneten, von denen nicht wenige in der Sache mit Seehofer sympathisieren, auf die Merkel-Linie einzuschwören. So warb Kanzleramtsminister Helge Braun nach Informationen unserer Zeitung bei der Sitzung der CDULandesgruppe Baden-Württemberg für den Merkel-Kurs. Zum Treffen der Landesgruppe Nordrhein- Westfalen reiste eigens Ministerpräsident Armin Laschet an, einer der wichtigsten Merkel-Vertrauten. Jetzt zählt jede Stimme.
Andrea Nahles, SPD-Parteichefin und Bundestagsfraktionsvorsitzende spricht von einer „ausgesprochen angespannten Lage“, in der sich die Regierung befinde. Die Fra- ge nach möglichen Neuwahlen in einem Fernsehinterview scheint sie jedenfalls nicht zu überraschen: „Das warten wir jetzt mal ab.“Und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagt im Gespräch mit unserer Zeitung: „Unser Eindruck ist, dass die Gräben zwischen CDU und CSU sehr tief sind.“Dies schaffe Instabilität in Deutschland und Europa und sei unverantwortlich – gerade in der jetzigen internationalen Situation. Klingbeil weiter: „Man kann über das Verhalten von CDU und CSU nur den Kopf schütteln.“
Auch in der Opposition wächst der Unmut über den Unions-Zank mit jedem Tag. Grünen-Fraktionsvorsitzender Toni Hofreiter zu unserer Zeitung: „Es ist nicht akzeptabel, dass die CSU mit ihrem Theater die Stabilität des ganzen Landes und Europas gefährdet. Die Union wird ihrer Verantwortung überhaupt nicht gerecht.“Die Hängepartie zeige, „dass die Koalition gerade nicht in der Lage und nicht willens ist, dieses Land zu regieren“.
Michael Theurer, stellvertretender FDP-Fraktionschef, geht dagegen nicht die CSU, sondern die Bundeskanzlerin scharf an: „Es zeigt sich erneut, dass sich Merkels Politik der Formelkompromisse überlebt hat.“Durch das „ständige Aufschieben und Aussitzen schwieriger Fragen“habe sich die Union in eine unmögliche Lage gebracht: „Merkel und Seehofer sind nur noch Getriebene.“Für Theurer ist klar: „Diese Chaos-Koalition schadet Deutschland.“
„Es ist sehr ernst, das hat man gestern auch in den Gesprächen gemerkt.“ Unions Fraktionschef Volker Kauder