Russland gelingt die Sensation
Russland gegen Spanien war das Duell zweier Fußball-Philosophien. Am Ende des Spiels gab es neben den Gastgebern einen weiteren Sieger: den Fan des ehrlichen Kampfes
Moskau
Nach dem 4:3-Erfolg im Elfmeterschießen und 120 Minuten intensiver Abwehrschlacht zuvor steht die Frage: Darf man sich mit dieser russischen Elf freuen? Für den Fußballfan ist als Antwort zulässig: Natürlich. Denn der Art und Weise, wie sie aus limitierten Möglichkeiten das Maximum herausholt, trotzdem spielerisch glänzt und mit dem Vorleben von Leidenschaft die Begeisterung weckt bei Mitspielern und Fans, kann sich niemand entziehen, der das Spiel liebt.
Und sie bietet tolle Typen: Artjöm Dsjuba, der Turm von Tula, Stanislaw Tschertschessow, der kauzige Trainer, der zu seinem zurückhaltenden Jubel anmerkte: „Ich habe mir etwas für den weiteren Turnierverlauf aufgespart.“Einst war er Torwart, nun schenkt er einem Keeper das Vertrauen, der bei der WM 2014 und der EM 2016 durch Fehler aufgefallen war. Gegen Spanien wurde er zum Helden.
Beide Trainer hatten mit ihrer Startelf überrascht: Spaniens 17-Tage-Mann Fernando Hierro setzte Taktgeber Andrés Iniesta, der nach dem Spiel seinen Rücktritt bekannt gab, zunächst auf die Bank – der junge Marco Asensio begann. Tschertschessow ließ Linksaußen Denis Tscheryschew, dreifacher Torschütze, zuerst draußen zugunsten eines defensiven 5-3-1-1-Systems mit Dsjuba als Zielspieler zur Einleitung von Kontern.
Zuerst dämpften aber die Spanier früh die Euphorie im Stadion mit dem 1:0 nach einer Standardsituation. Durch lange Diagonalbälle hatten die Iberer den Abwehrblock der Russen aufgeweicht, sodass Linksverteidiger Juri Schirkow den Spanier Nacho auf dem Flügel nur per Foul stoppen konnte. Asensios Freistoßflanke fand am zweiten Pfosten Spaniens Sergio Ramos in einem Ringkampf mit Sergej Ignaschewitsch: Beide zogen und zerrten, aber Russlands Libero verlor den Ball aus den Augen, der über seine eigene Wade ins Tor prallte – 0:1.
Dann aber schalteten die Spanier ungeschickterweise vom attraktiven Tiki-Taka in den Deutschland-Modus: Passsicherheit und Feldüberlegenheit ja, Sprints und Torgefährlichkeit nein. So verloren sie die Kontrolle. Das 1:1 erinnerte an den Spanien-Treffer: Erst Diagonalball, dann Standard. Eine Ecke fand Dsjuba im Rücken von Piqué und der Spanier hielt nach dem Unterlaufen des Balles den Arm in die Höhe, sodass der Kopfball auf seiner Hand landete. Ein klarer Elfmeter, bestätigt vom Videoassistenten, verwandelt von Dsjuba.
Der Rest der 120 Minuten ist fix erzählt: Spanien spielte zwar wieder etwas zielgerichteter, fand aber kaum einen Weg durch das engmaschige Netz der Russen. Auch weil Dsjuba nach 60 Minuten das Spielfeld verlassen hatte, musste Russ- lands Abwehrblock mit fortschreitender Spieldauer mit nachlassender Entlastung klarkommen und wich immer weiter zurück. Überwinden ließ er sich aber nicht mehr. Die Landsleute auf der Tribüne feierten frenetisch jede Grätsche ihrer Spieler – und die starken Paraden von Akinfejew. Die Fans trugen ihre Mannschaft mit Rossiya-Rufen akustisch bis zum Schlusspfiff.
Im Elfmeterschießen bei einsetzendem Regen wurde Akinfejew zum Helden: Er parierte gegen Koke mit der Hand und gegen Iago Aspas mit dem Fuß. „Ich spüre jetzt eine völlige Leere – vor Freude. Ob das glücklich war? Die Frage ist fehl am Platze, wir haben gewonnen“, sagte der 32-Jährige, nachdem er einen Diver in den umgepflügten Rasen gesetzt hatte.
Es war der Moment der Gewissheit, dass für diese Elf bei der WM 2018 alles möglich ist. Indirekt erklärte das sogar der Trainer des Gegners: „Spaniens Fußball hat seinen Markenkern gezeigt. Aber die Trends im internationalen Fußball – Fünferkette, Umschaltspiel – setzen andere“, so Hierro. Tore Zuschauer