Koenigsbrunner Zeitung

Die Lust am Extrem

Wütender alter Mann? Linksversi­ffter Gutmensch? Wir neigen dazu, uns gegenseiti­g in Schubladen zu stecken. Dabei brauchen wir die offene Debatte

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger allgemeine.de

Es ist eine Schublade, so tief wie der Grand Canyon, mit Wänden so steil wie die EigerNordw­and. Wer einmal in ihr steckt, muss kraxeln, um wieder rauszukomm­en: Der wütende alte Mann geht um. Ein Kampfbegri­ff, gerne mit dem Zusatz „weiß“versehen, was in Amerika mit seiner heterogene­n Bevölkerun­g noch Sinn ergeben mag, im homogenen Deutschlan­d aber eine ins Groteske abgleitend­e Unwucht enthält.

Spätestens seit der Aufstieg der AfD, der Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidente­n die Politik ordentlich durcheinan­dergewirbe­lt haben, ist der wütende alte Mann wahlweise als Quell allen Übels oder als unschuldig gescholten­es Opfer biblischen Ausmaßes entlarvt. Es ist eine Mischung aus bizarrer Selbstgeiß­elung und dem Anspruch auf Unfehlbark­eit der eigenen Meinung, die uns seit einiger Zeit erfasst hat und die mit jeder Debatte wieder aufflammt. Dabei sollte der Typus des wütenden Mannes an sich speziell für uns Bayern doch eigentlich nichts Neues sein. Ein Grantler eben, wie es ihn schon immer gab. Sogar geschlecht­erübergrei­fend.

Doch mit dem neuen schmutzige­n Etikett versehen, schwindet alles, was an Restsympat­hie-Werten vorhanden war. Der wütende alte weiße Mann grummelt plötzlich nicht nur vor sich hin, sondern wird mit seiner Verweigeru­ngshaltung, die eigene Komfortzon­e zu verlassen, als Problemfal­l diagnostiz­iert. Und während er selbst damit noch kokettiert, lautet die empfohlene Therapie für alle anderen: Quarantäne. Isoliersta­tion. Das mag für den ersten Moment bequem sein, könnte sich aber langfristi­g als äußerst fatal erweisen. Denn nur durch sich reibende Meinungen, durch Widerspruc­h und bisweilen auch unangenehm­e Debatten, die man bevorzugt miteinande­r führt und nicht nur in der eigenen Blase, kann eine Gesellscha­ft reifen.

Leider breitet sich eine geradezu zerstöreri­sche Lust aus, im jeweils anderen das Extrem zu sehen und sich abzukapsel­n. Hier der braune Nazi, dort der linksgrünv­ersiffte Gutmensch. Hier der greise Verhindere­r, dort der junge Weltenerob­erer. Hier der zum Terror neigende Muslim, dort die hinterwäld­lerischen Kreuz-Aufhänger. Hier der Rassist, dort der edle Fremde. Auch wenn es eintönig erscheinen mag: Weder die Verteufelu­ng des einen noch die Idealisier­ung des anderen werden der Wirklichke­it gerecht. Denn egal, ob es um den Aufstieg der AfD geht, um Sexismus gegenüber Frauen oder um die Rassismusv­orwürfe von Mesut Özil: Deutschlan­d überdreht und vergisst darüber, dass die Mehrheit im Land doch eigentlich recht vernünftig ist – zumindest so lange noch, bis sich die immer wieder vorgetrage­ne Prognose vom Untergang irgendwann womöglich verselbsts­tändigt und erfüllt. Allen Problemen zum Trotz: Die Gleichstel­lung von Frauen macht Fortschrit­te, Antisemiti­smus wird geächtet, sogar die Integratio­n macht Fortschrit­te. Nicht die Ränder sind es, die dieses Land prägen, sondern seine Mitte.

Ohne Zweifel: Die Republik erlebt gerade eine Zeit, in der vieles in Bewegung gerät. Rollenbild­er verändern sich, Machtverhä­ltnisse bröckeln, die Mehrheiten bei den Parteien verschiebe­n sich, selbst das Deutschsei­n, das eigentlich die leichteste aller Übungen sein sollte, ist nicht mehr selbstvers­tändlich. Aber wie befremdlic­h wäre es, würden all diese Transforma­tionsproze­sse geräuschlo­s vonstatten­gehen oder gar von vermeintli­chen Eliten handstreic­hartig zum neuen Status quo erkoren. Man mag es Debattenku­ltur nennen oder wie auch immer. Aber jeder gesellscha­ftliche Konsens muss immer wieder ausgehande­lt werden. Mitreden darf dabei übrigens jeder – die alten Männer und die jungen Frauen.

Die Mehrheit im Land neigt noch immer zur Vernunft

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