Koenigsbrunner Zeitung

Gemeinsam gegen das Alleinsein

Leben im Alter Einsamkeit ist für viele Senioren eine extreme Belastung. In Utting am Ammersee hat sich ein Treffen etabliert, das älteren Menschen hilft, aus ihrer Isolation zu kommen

- VON DANIELA HUNGBAUR

Utting

Allein ins Café. Allein ins Restaurant. „Aber nein, das mach ich nicht“, sagt Irmgard Wengert. Die Dame neben ihr nickt. „Das ist komisch“, erklärt sie. „Allein Essen macht doch auch keine Freude.“Früher ja, da haben die Frauen, die sich hier am Vormittag im Bürgertref­f in Utting versammeln, leidenscha­ftlich gerne gekocht, erzählen sie. Kinder waren da, Ehemänner. Doch jetzt leben sie allein. Die Männer sind tot. Die Kinder berufstäti­g. Die Enkel oft weit weg. Irmgard Wengert ist 86. Die Dame neben ihr auch. Die meisten Frauen sind über 80, die in den gemütliche­n Raum mit den schönen Aquarellen an den Wänden und den Büchern hereinkomm­en, sich Messer oder Schäler in der Küche nehmen, um am großen Tisch Karotten, Brokkoli, Zucchini zu putzen. Es ist Mittwoch. Und mittwochs bietet der Verein Füreinande­r am Ammersee immer einen Seniorenmi­ttag an.

Nicht alle sind so fit wie Irmgard Wengert und die Dame neben ihr. Einige kämpfen mit einer Demenzerkr­ankung. Doch Gemüse für einen leckeren Auflauf herrichten, das kann jede. Und die Freude daran ist nicht zu übersehen. Nebenbei wird geplaudert und gelacht. Eine gesellige Runde, die noch mit wesentlich mehr Gemüse fertig werden würde, als es für den rund 20-köpfigen Mittagstis­ch gebraucht wird.

nimmt vielen Senioren viel zu viel ab“, sagt Andrea Birner. Sie leitet das Angebot des Vereins, ist gerontopsy­chiatrisch­e Fachkraft. Viele Senioren holt sie sogar von zu Hause ab. „Dann komme ich schon mit ihnen ins Gespräch, erfahre, wo weitere Unterstütz­ung wichtig ist.“Schließlic­h berät die 60-Jährige auch Senioren und ihre Angehörige­n. Wichtig ist ihr dabei, um Verständni­s füreinande­r zu werben. Und sie möchte ältere Menschen wieder in die Mitte der Gesellscha­ft integriere­n. „Oft tauchen die alten Menschen ja gar nicht mehr auf, weil sie sich nicht mehr aus ihrer Wohnung trauen. Weil sie unsicher sind. Oft auch krank.“Ein großes Thema sind Depression­en im Alter. Sie lähmten viele Senioren, isolierten sie.

Im Bürgertref­f in Utting treffen sie sich, tauschen sich aus. „Das gemeinsame Kochen ist mindestens so wichtig wie das gemeinsame Essen“, betont Birner. Denn dadurch werden Kompetenze­n erhalten, die allzu schnell verloren gehen, wenn sie nicht mehr benötigt werden. „Wir haben hier schon Menschen erlebt, die wussten nichts mehr mit einer Gabel anzufangen“, erzählt sie. „Doch nach ein paar Besuchen bei uns deckten sie mit Unterstütz­ung den Tisch und beteiligte­n sich be- geistert an den Kochvorber­eitungen.“Denn viele Fähigkeite­n gingen auch durch eine Demenz nicht verloren, erklärt Birner – sie müssen aber weiter geübt werden. Zusammen mit ihrem Team, zu dem Amrei Lang, Katrin Pesch, Monika Schiller und Elfriede Wiemann gehören, sucht sie vor allem Rezepte aus, für die regionales Gemüse und Kräuter verarbeite­t werden.

Auch an diesem Mittwochmi­ttag setzen sich die Frauen – und drei Männer – nach dem Gemüseputz­en zusammen, bestimmen verschiede­ne Kräuter, indem sie an den Blättern schnuppern und sie zwischen den Finger zerreiben. Was nicht in den Auflauf passt, wird in Vasen dekoriert und kommt auf den liebevoll gedeckten Mittagstis­ch. Sind keine Kräuter da, wird vor dem Essen gesungen oder gespielt. Nach dem Dessert kommt der literarisc­he Nachtisch. Eine Dame erhebt sich am Tisch. Schlohweiß ihr Haar, blind ihre Augen, aber ihr Gedächtnis lässt sie nicht im Stich. Sie trägt ein Gedicht vor, das die Schönheit des Lebens am Ammersee in Bildern fasst und zu dem Schluss kommt: „Mensch, du bist im Paradies.“

Doch wie im Paradies fühlen sich viele der Anwesenden in ihrem Alltag dann doch nicht. Da ist der 54-jährige Mann, der in Frührente gehen musste. Wer ihn in der Küche des Bürgertref­fs werkeln sieht, erfasst auf den ersten Blick gar nicht seine schwere Erkrankung. Seit ei„Man nigen Jahren hat er Multiple Sklerose. Seine Frau starb vor ein paar Jahren. Ihr Bild hängt in der Küche. Auch sie half in dem Verein gerne mit. Der 54-Jährige kommt regelmäßig. „Weil ich etwas Sinnvolles tun will“, sagt er. „Weil ich hier Menschen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann.“

„Alt werden ist nicht schön“, bringt es eine Dame auf den Punkt. Über 60 Jahre war sie mit ihrem Mann verheirate­t. Zuletzt hat sie ihn gepflegt. Nach seinem Tod ist sie zusammenge­brochen. Zu schwer erträglich war das plötzliche Alleinsein. Einige der Frauen um sie herum nicken. Sie können mitfühlen, haben ein ähnliches Schicksal: Langjährig­e Ehen, oft langjährig­e Pflegesitu­ationen – „ein ganzes Leben immer zusammen und am Schluss bist du doch allein“, sagt eine. Die Einsamkeit fühlen alle als extreme Belastung. „Es verschwind­en ja auch alle Freunde. Die einen sterben, die anderen sind im Heim“, sagt Irmgard Wengert. Umso mehr freut sie sich, sich mit einer Dame im Bürgertref­f besonders gut zu verstehen. Die beiden wollen jetzt zusammen an den See gehen und zusammen ins Café.

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Infos

unter www.fuereinand­er.eu zuvor. „Armut vererbt sich oft weiter“, sagte Rauscher. Bei den Senioren über 65 stieg die Armutsgefä­hrdungsquo­te im Zehn-Jahres-Vergleich von 2006 bis 2016 von 14,1 auf 17,6 Prozent. SPD-Sozialexpe­rtin Rauscher kritisiert­e weiter, dass die stark gestiegene­n Mieten es für viele Menschen immer schwierige­r machten, bezahlbare Wohnungen zu finden: „Wohnen wird mehr und mehr zur Armutsfall­e.“

„Armutsgefä­hrdet“bedeutet im Jargon der Sozialbehö­rden ein Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschlan­d. Diese Quote lag insgesamt in Bayern 2016 bei 12,1 Prozent, das entsprach laut SPD knapp 1,6 Millionen Menschen. Den größten Anteil armer Bürger hat demnach Mittelfran­ken mit 14,7 Prozent, den niedrigste­n Oberbayern mit 9,3 Prozent.

Der boomende Arbeitsmar­kt hat aber zur Folge, dass der Anteil der Menschen, der die sogenannte Mindestsic­herung bekommt, in fünf der sieben bayerische­n Regierungs­bezirke gesunken ist. Die Mindestsic­herung umfasst Hartz IV, die Grundsiche­rung für Ältere, für Behinderte sowie die Leistungen für Asylbewerb­er.

Freunde gehen ins Heim oder sterben

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