Doppelt ausgenutzt
Wäre die Altenpflege eine normale „Branche“, die angestellten Pflegerinnen und Pfleger wären schon lange auf die Barrikaden gegangen. Sie hätten angesichts unterdurchschnittlicher Bezahlung und überdurchschnittlicher Belastung einen harten Arbeitskampf angezettelt, wie es ihr gutes Arbeitnehmerrecht wäre.
Doch sie wissen mehr als jeder andere, dass Streiks sprichwörtlich auf dem Rücken der Pflegebedürftigen ausgetragen würden, die am allermeisten unter den Folgen von Streiks zu leiden hätten. Die Folge des Dilemmas ist, Tarifpolitik und Gewerkschaften spielen in der Pflegebranche kaum eine Rolle. Auch deshalb sind die Gehälter privater Pflegeunternehmen meist oft niedriger als bei öffentlichen Trägern. Das soziale Gewissen und die Hilfsbereitschaft, die viele den Pflegeberuf ergreifen ließen, wird damit doppelt ausgenutzt.
Dass die Koalition nun auf einen allgemeinen Tarifvertrag in der Branche hinwirkt, ist von zentraler Bedeutung, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Der politische Eingriff in die Tarifautonomie ist angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung gerechtfertigt. Denn auf der anderen Seite stehen knallharte wirtschaftliche Interessen, die ausgerechnet von dem FDP-Politprofi Rainer Brüderle als Arbeitgeber-Repräsentant verkörpert werden. Es spricht Bände, dass sich die privaten Betreiber einen bestens vernetzten Ex-Bundesminister als Lobbyisten eingekauft haben, um Tariflöhne zu verhindern. Für die Beschäftigten der Branche bleibt zu hoffen, dass sich weder der CDU-Gesundheitsminister noch der SPD-Arbeitsminister von der fragwürdigen Mission ihres Ex-Kollegen beeindrucken lassen, den Kostenfaktor Pflegepersonal klein zu halten. organisiert. Brüderles Arbeitgeberverband will das Thema lieber über eine bestehende Kommission regeln, die schon einen Mindestlohn für Pflegehilfskräfte bestimmt hat. Ein bundesweiter Tarifvertrag für alle Arbeitsverhältnisse sei „der völlig falsche Ansatz“, warnt Brüderles Verband und wehrt sich gegen neue gesetzliche Eingriffe.
Dagegen unterstützt die Caritas eine stärkere Tarifbindung. Ein möglicher allgemein verbindlicher Tarifvertrag dürfe aber nicht die eigene, überdurchschnittliche Bezahlung gefährden, erklärt der katholische Wohlfahrtsverband. Klar ist aber auch, höhere Löhne dürften den Pflegebeitrag aller Arbeitnehmer weiter steigen lassen und zusätzliche Steuermittel kosten.
. Sascha Meyer, dpa