Wenn der Vater der Nation die Rente erklärt
In einer Fernsehansprache an sein Volk fordert der russische Präsident Wladimir Putin Nachbesserungen der umstrittenen Pensionsreform – und inszeniert sich wieder einmal als ehrlicher Kümmerer
Moskau
Wladimir Putin spricht ruhig, hin und wieder nimmt er seine Hände zu Hilfe. „Ich verstehe Ihre Sorgen“, sagt er in seinem braunen Holzstuhl. „Verstehe Sie gut und wende mich an Sie direkt, um alles objektiv und ehrlich zu erklären und meine eigenen Positionen darzulegen.“Eine halbe Stunde Zeit hat sich der Kreml-Chef genommen, um in einer landesweit übertragenen Sonderansprache im Fernsehen seinem Volk mitzuteilen, wie es um die Rentenreform steht. Seine Regierung hatte das brisante Vorhaben ausgerechnet am Tag des FußballWM-Eröffnungsspiels im Juni ins Parlament eingebracht. Da mag die Hoffnung eine Rolle gespielt haben, dass die Euphorie über das Großereignis den Groll über die weitrechende Reform überdecken würde.
Darum geht es: Frauen sollen statt mit 55 erst mit 60 Jahren in Rente gehen – Männer mit 65 Jahren anstatt mit 60. Für Russen, deren Lebenserwartung ungleich niedriger ist als für die Bewohner in Westeuropa, sind das harte Einschnitte. Doch die Rechnung Putins ging nicht auf: Die Proteste kamen sofort und mit ihnen schlechte Umfragewerte für den Präsidenten. 89 Prozent der Bevölkerung, so rechnet das unabhängige Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada vor, seien gegen die Reform. Die staatlichen Meinungsforscher von Wziom bescheinigen Putin in diesen Tagen Zustimmungswerte von lediglich 38 Prozent.
Der Präsident selbst hatte sich lange zurückgehalten, hatte immer betont, dass die Regierung die Pläne ausgearbeitet habe. Er selbst habe schließlich von Anfang an gesagt, mit ihm als Präsidenten werde es Veränderungen solcher Art nicht geben. Ein Versprechen, das ihm gerade unter Älteren stets große Zustimmung eingebracht hatte.
Doch jetzt erklärte er im Fernsehen, dass der harte Schnitt unausweichlich sei – wegen des demografischen Wandels, der Lebensqualität im Alter und der Sicherheit des Landes. Zuvor sei eine Reform solchen Ausmaßes wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Lage nach dem Schock der 1990er Jahre nicht möglich gewesen. Doch seit 2016 erhole sich das Land. „Wir müssen uns fragen, was in 15, was in 20 Jahren ist“, sagt der rhetorisch versierte Präsident, der seine Sätze immer wieder mit „Schauen Sie, ich wiederhole, ich verstehe natürlich“anfängt. Es ist ein Appell putinscher Art, um die Proteststimmung im Land einzudämmen. Schließlich ist die Rente – im Durchschnitt liegt sie bei umgerechnet nicht einmal 200 Euro – in manchen Regionen das einzige Einkommen für mehrere Generationen einer Familie. Der Opposition, die auch für diesen Sonntag zu Protesten gegen die Reform aufruft, wirft er „Selbst-PR“vor. Es sei unverantwortlich, die Rentenpläne weiter aufzuschieben. „Je später die Schritte kommen, desto härter werden sie sein“, sagt Putin.
Sechs Punkte legt er dar, um die Auswirkungen der Reform abzufedern – gemäß seiner Rolle als sorgender Landesvater. Er erklärt, er beruhigt, er beauftragt. Der „gute Zar“(Putin) stellt sich hier gegen die „schlechten Bojaren“(Regierung), eine Haltung, die in Russlands Politik seit jeher eine große Rolle spielt. So sollen Frauen – „in unserem Land pflegen wir eine besondere, eine behutsame Beziehung zu Frauen“– und Männer nur noch fünf Jahre später in Rente gehen. Zunächst hatte die Regierung acht Jahre vorgesehen.
Gleichzeitig versprach Putin gewisse Vergünstigungen. In Zukunft soll die Besteuerung von Wohneigentum, die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs und der Kauf von Medikamenten an das Alter und nicht mehr an die Rente gekoppelt werden. Ausnahmen soll es ebenfalls für Minenarbeiter, für Dorfbewohner oder auch für TschernobylÜberlebende geben. „Es ist alles nicht einfach, aber notwendig. Ich bitte um Verständnis.“Im Herbst soll über die Reform abgestimmt werden.
„Seit 2016 erholt sich das Land. Wir müssen uns fragen, was in 15, was in 20 Jahren ist.“ Wladimir Putin