Ein Mann für die große Perspektive
Wenn Tom Hegen arbeitet, steigt er Hunderte Meter in die Höhe. Der junge Künstler aus Königsbrunn ist Luftbildfotograf. Mit Helikoptern und Heißluftballons sucht er nach den großen Spuren des menschlichen Lebens
Tom Hegens Arbeitsplatz ist der Helikopter. Er lehnt sich vor bis an den Rand, die Füße finden Halt auf den Kufen. Senkrecht zielt er mit der Kamera auf den Boden, sein Zeigefinger ruht auf dem Auslöser. „Wenn du aus dem Hubschrauber hängst, der Wind dir um die Ohren bläst, dann kannst du nicht so genau und gezielt fotografieren“, sagt Tom Hegen. Und deshalb schießt er viele Fotos. Zahllose Aufnahmen, bis ein Bild tatsächlich das Motiv eingefangen hat. So entstehen Fotos, die weite Perspektiven eröffnen – und von der Menschheit erzählen.
Der 27-Jährige stammt aus Königsbrunn und fotografiert in der ganzen Welt. Gerne erzählt er von seiner Kunst und von den drei Glücksmomenten im Leben eines Luftbildfotografen. Das erste Hochgefühl erlebt er im Flug. „Bevor der Helikopter abhebt, habe ich schon diese Vorstellung für ein Motiv im Kopf“, sagt Hegen. „Und wenn ich sehe, dass ich genau das geschossen habe, was ich schießen wollte, dann ist das pures Glück.“
Der nächste Glücksmoment stellt sich ein, wenn der Fotograf wieder Boden unter den Füßen spürt, bei der Auswahl der Bilder. In das Sortieren und die Feinarbeit könne er sich regelrecht verlieren, sagt Hegen. Und zuletzt folgt der Moment, in dem sein Werk die Menschen erreicht. Wenn Hegen seine Bilder veröffentlicht und er die Reaktionen genießt. „Der Schauspieler hat seinen Applaus. Und ich hoffe auch auf Resonanz.“
Seine „Salz-Serie“wurde mehrfach ausgezeichnet. Der US-Sender
CNN berichtete über das Projekt, Fachmagazine klopften plötzlich an. „60 Millionen Leute haben diese Bilder vermutlich schon gesehen“, sagt Hegen und lächelt. „Keine schlechte Nummer.“Die Fotos zeigen den Salzabbau an den Küsten des Mittelmeers. Flächen in bunten Farben, blutrot, blau und das Schneeweiß des Salzes. „Das sind Flächen so groß wie Paris“, sagt Hegen. Die kräftigen Farben entstehen durch Bakterien, die mit dem Salz reagieren und das Wasser in bunte Töne tauchen. Es wirkt abstrakt und kunstvoll, was da auf Hegens Salz-Bildern im Zusammenspiel von Kamera, Mensch und Natur entsteht. Tom Hegen kennt die Wirkung seiner Fotos: „Bei einer Ausstellung in London hab ich einen Besucher beobachtet, der sagte: Das ist aber schön gemalt!“Doch unter der Oberfläche der Salz-Serie, verbirgt sich weit mehr als Ästhetik.
Die Luftbildfotografie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts geboren. Sie diente zunächst für kriegstaktische Zwecke. Einer der ersten, der diese Form der Fotografie aber als Kunst verstand, war Georg Gerster. Heute ist der Luftbild-Pionier 90 Jahre alt – und er wird ein Vorwort für den ersten Bildband des 27-jährigen Tom Hegen schreiben. Es gibt schon einen ersten Prototyp von Hegens Fotobuch. Auf Seite zwei steht ein Zitat von Gerster: „Höhe schafft Übersicht, Übersicht erleichtert Einsicht und Einsicht erzeugt – vielleicht – Rücksicht.“
Hegen hat seinen Band „Habitat“genannt. Darin zeigt er die Menschheit als Spezies, die tiefe und weite Spuren in der Natur hinterlässt. „Ich möchte von der Evolution erzählen“, sagt der 27-Jährige. Was uns ernährt, was uns antreibt, was uns verbindet und was uns wertvoll sein sollte – so lauten die einzelnen Kapitel. Sie do- kumentieren Rohstoffabbau und Straßen, Baumschulen, Steinbrüche und Strommasten. „99,4 Prozent der Fläche Deutschlands ist heute von Menschen bearbeitet. Das habe ich zuerst nicht glauben können“, sagt Hegen. Doch dann begab er sich auf Reisen, in Leichtflugzeugen, mit Heißluftballonen und Helikoptern.
Hegen hatte keinen Auftraggeber für dieses Großprojekt, er arbeitete ganz für sich und vertiefte sich in die Recherche. Über Satellitenbilder suchte er nach Motiven und musste darauf hoffen, sie auch so vorzufinden. „Extrem teuer und extrem wenig Zeit“, so beschreibt er den Aufwand, der in seine Kunst fließt. Seine Fotodrohne hat Hegen selbst gebaut, mehrmals ist sie abgestürzt. Eine halbe Stunde Helikopterflug kostet ihn rund 1000 Euro. Aber den Piloten gefallen solche Aufträge, sagt Hegen. Er dirigiere sie. Hundert Meter höher bitte, etwas tiefer, etwas schräger.
Hegens Bilder fliegen über Deutschland und durchwandern die Jahreszeiten. Sie zeigen Solarfelder, Windkraftanlagen und Wasserkraftwerke. Landschaften, die sich der Mensch auf Straßen und Schienen nicht nur zu eigen gemacht hat. Landschaften, die er nach seinem Willen gestaltet und verformt hat. Hegens Auge sucht die Muster dieser Künstlichkeit, die der Mensch in die vermeintlich wilde Natur gebracht hat. Deutsche Waldromantik? Sie entpuppt sich auf seinen Bildern als Monokultur in wohlgeordneten Reihen. „Der Wald ist hier teilweise nichts anderes als ein Kartoffelfeld“, sagt Hegen. Doch bei aller Sozialkritik leben seine Bilder auch von ihrem Witz. „Das sind Wimmelbilder“, sagt Hegen und deutet auf einen Punkt in einem grünen Muster: „Dort ist ein Salatkopf.“Er will die menschlichen Spuren in der Natur zeigen, nicht den Mensch an sich. Aber in eines der Drohnenfotos hat sich der Künstler selbst geschlichen. Ein winziges rotes Pixel, das ist seine Kappe im Wald. Kunst ist für Hegen Ausdruck von Emotionen und Ideen zugleich. Seine Faszination für Form und Schönheit folgt seinem sozialkritischen Gespür. Hegens Diagnose aus der Vogelperspektive: Heute ist fast alles in Deutschland auf Profit ausgelegt. „Diese Denkweise funktioniert für mich nicht.“Ob er ein Kulturpessimist ist? Da zögert der Fotograf. Nein, das könne man so nicht sagen. Er wählt seine Worte mit Bedacht: „Ich möchte ein Bewusstsein wecken. Ich möchte, dass wir anfangen, Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen.“Sein Köder ist die Ästhetik, sind die Formen und Farben. Seine Bilder seien Zucker, der sich als Gift entpuppt, sagt Hegen selbst. So könne er auch Leute erreichen, die mit Umweltthemen sonst nicht in Berührung kommen.
Die Fotografie sticht für ihn aus allen Disziplinen der Kunst hervor: „Sie ist dokumentarisch.“Er empfindet seine Arbeit auch als journalistisch. Und dennoch sagt Hegen: „Kein Bild zeigt die Realität.“Schon im Pionierzeitalter der Fotografie sei das so gewesen. In der Zeit der Dunkelkammern, der Wannen mit Chemikalien, mussten sich die Fotografen entscheiden, welche Kontraste und welche Belichtung sie wählten. Hegen selbst feilt heute am Computer an der Farbsättigung und begradigt die Bilder. Doch eine Retusche nimmt er nicht vor – kein Pixel verändert er. „Nichts wegnehmen, was da ist, und auch nichts hinzufügen“, das sei sein Ideal.
Ob im Flug oder bei der Auswahl und Nachbereitung – Hegens Arbeit ist still und oft einsam. Das gilt auch für seine nächste Fotoreise, die ihn in den Norden führt. „In Grönland werde ich kaum einen Menschen treffen“, sagt Hegen. Fotos von riesigen Eisfeldern, die brechen und hinwegschmelzen, so möchte er den Klimawandel dokumentieren. Auch dieses Projekt folgt seiner Philosophie: Fotokunst will er mit Konzept und Geschichten verbinden.
„Die Fotografie ist heute extrem demokratisiert“, sagt der 27-Jährige. Er bemerkt, wie sich die Bilder in den sozialen Kanälen, im weltweiten Netz gleichen. Wie sich ein und dasselbe Motiv in Tausenden Fotografien auf Facebook und Instagram wiederfindet. „Ein gutes Foto ist heute keine Kunst mehr“, sagt Hegen. Er versucht, auf anderen Wegen seinen Wert als Fotograf zu definieren. „Der Mensch ist der Künstler, die Erde ein Gemälde“, sagt Hegen. „Und ich fasse es in einen Rahmen.“