Einblicke in einen sehr verwirrten Kopf
Justiz Der Geiselnehmer von Pfaffenhofen wirkt vor Gericht sachlich, ist aber psychisch krank. Wie sehr, ist schwer zu sagen
Ingolstadt Es ist eine seltsame Diskrepanz, die sich am Mittwoch vor dem Landgericht Ingolstadt noch deutlicher erschloss als beim Prozessauftakt: Auch am zweiten Verhandlungstag saß der vollumfänglich geständige Geiselnehmer von Pfaffenhofen wieder ganz ruhig auf seiner Bank, beantwortete sachlich Fragen, war höflich und zurücknehmend. Zugleich aber machte die Beweisaufnahme immer deutlicher, dass der 29-jährige Ingolstädter eine ganz andere Seite hat.
Seit seiner Verhaftung ist er in einer Münchener Psychiatrie untergebracht und die Kernfrage der Verhandlung ist, ob er zum Zeitpunkt der Tat schuldfähig war. Es geht darum, ob er ins Gefängnis oder dauerhaft in ein psychiatrisches Krankenhaus kommt. Verantworten muss sich der arbeitslose Schulabbrecher vor der 5. Strafkammer, weil er am 6. November 2017 eine Mitarbeiterin des Pfaffenhofener Jugendamtes in seine Gewalt gebracht, mit einem Messer bedroht und auch verletzt hatte. Nach knapp sechs Stunden hatte die Polizei den Vater einer kleinen Tochter überwältigt und die Frau befreit. Das Motiv des Angeklagten: Er wollte beim Jugendamt durchsetzen, dass seine Tochter aus einer Pflegefamilie zurück in die Obhut der leiblichen, allerdings psychisch erkrankten Mutter zurückgegeben wird. Wenige Tage vor der Tat war den beiden mitgeteilt worden, dass die Tochter noch nicht nach Hause könne. Es brauche noch ein familienpsychologisches Gutachten.
Sowohl die frühere Lebensgefährtin als auch die Schwester des Angeklagten hatten ihrem Ex-Partner und Bruder bescheinigt, nicht gewalttätig und ein guter Vater zu sein. Das Sorgerecht hatte er selbst nicht gehabt, weil er und die Mutter nicht verheiratet waren und auch nicht gemeinsam wohnten. Der ablehnende Bescheid des Familiengerichts hatte ihn sehr erzürnt. Die Schwester sagte über ihren angeklagten Bruder auch: „Er staut das in sich auf. Er ist wie ein Panzer. Irgendwann kommt dann alles raus.“
Die nach wie vor psychisch angeschlagene Geisel war die Leidtragende dieses Ausbruchs. Auf ihre Aussage hatten die Verteidigung und der Geiselnehmer verzichtet und ihr somit erspart, dass sie sich erneut ihrer erlittenen Todesangst stellen musste. Während der Geiselnahme hatte er die ihr zugefügten Wunden versorgt und einen Notarzt (und eine neue Geisel) angefordert, als es ihr immer schlechter ging. Allerdings wollte er von der Polizei auch eine Schusswaffe („effektiver“) bekommen. Ein Foto von sich und ihr hatte er verschickt. Zu sehen war, wie er ihr das Messer an den Hals hält. In einem von der Polizei mitgeschnittenen Telefonat ist seine Stimme zu hören wie vor Gericht: ruhig, sachlich. Ein bisschen gepresst.
Der ihn behandelnde Arzt bescheinigte seinem bereits öfter eingewiesenen Patienten, „psychisch krank“zu sein. Der hatte, auch das ergab die Beweisaufnahme, schon mehrfach versucht, sich umzubringen. Götterstimmen etwa habe er gehört, er solle sich auf eine Fahrbahn stellen. Die Diagnose allerdings erscheint schwierig. Entscheidend wird das Gutachten sein, das im Oktober vorgelegt wird.
Ein guter Freund hatte den Angeklagten im Handy unter „Totgeweihter“eingespeichert. Früher hatte der einmal geschrieben, die Leute würden sich noch wundern, „zu welch bestialischen Taten“er fähig sei. Und nachdem ein Anwalt wenige Tage vor der Tat nichts wegen seiner Tochter erreicht hatte, kündigte er an, die „Drecksarbeit“nun selbst erledigen zu müssen.