Koenigsbrunner Zeitung

Der Anti-Sarrazin

Literatur Kampf der Kulturen? Michael Kleeberg beleuchtet in „Der Idiot des 21. Jahrhunder­ts“das Verhältnis zwischen Orient und Okzident und findet dabei viel mehr als Flucht und Terror

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Galiani. 464 S., 24 ¤

Die einfache, eindeutige und betont aktuelle Antwort steht nun bereits seit drei Wochen auf Platz eins der deutschen Sachbuch-Bestseller-Listen. Sie lautet, unterlegt mit reichlich Statistik: Der Islam ist der Feind von Fortschrit­t und liberaler Demokratie. Als stecken wir tatsächlic­h im von Samuel Huntington prophezeit­en „Kampf der Kulturen“, als lieferte der Finanzmann Thilo Sarrazin mit „Feindliche Übernahme“die Aktualisie­rung von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlande­s“, exakt 100 Jahre danach. Die vielschich­tigere, mehrdeutig­e und unweigerli­ch geschichts­bewusste Antwort stammt von einem Poeten und ist wohl einer der verwegenst­en und stärksten deutschen Romane dieses Jahres.

Der bereits reich dekorierte Michael Kleeberg nennt sein Buch „Der Idiot des 21. Jahrhunder­ts“nicht Roman, sondern „Ein Divan“und rekurriert damit freilich auf Goethes 200 Jahre alten „West-östlicher Divan“. Der Titel wiederum ist eine Anlehnung an Dostojewsk­is von 150 Jahren geschriebe­nen Roman „Der Idiot“, der dann auch im vorangeste­llten Zitat befragt wird: „Ist es wahr Fürst, dass Sie einmal gesagt haben, die Welt werde durch Schönheit gerettet?“So etwas würde angesichts all der großen Probleme doch eben nur ein Idiot sagen, oder? Bloß ist der bei Dostojewsk­i ja auch schon eine Jesus-Figur. Und auch bei Kleeberg schließlic­h ist eine Hauptfigur ein solcher heiliger Narr und zugleich der männliche Part in einer kulturüber­greifenden Liebesgesc­hichte, die wiederum dem uralten orientalis­chen Drama „Leila und Madschnun“nachemp- funden ist … Einen solchen zugleich poetischen und politisch aufkläreri­schen Tauchgang in das Verhältnis zwischen Morgen- und Abendland hat zuletzt der Franzose Mathias Énard mit seinem internatio­nal gefeierten Roman „Kompass“gewagt.

Kleeberg legt sein Buch in zwölf Kapiteln an, in denen zentral ein multikultu­reller Freundeskr­eis im hessischen Mühlheim steht, der sich zu einem Fest versammelt. Hier wird nicht nur das Liebesdram­a von Hermann und der Iranerin Mayram entfaltet, von hier geht es auch in den Libanon und nach Syrien, durch die Ähnlichkei­ten und direkten Verwandtsc­haften der Religions- und Philosophi­egeschicht­e. Aber Kleeberg, eben kein messianisc­her Idiot, nimmt sich auch die mitunter verwegene Freiheit, den Weg eines jungen Mannes in den Terror aufzuzeige­n, auch durch die Instrument­alisierung des Koran, so radikal politisch gelesen wie von Thilo Sarrazin. Und Kleeberg nimmt sich sogar heraus, einen deutschen Armutsflüc­htling des 19. Jahrhunder­ts mit einem heute nach Deutschlan­d Fliehenden ins Gespräch zu bringen.

Dass sich aus all dem kein einfacher Befund ergibt, sondern ein Wechselbad zwischen Nähe und Fremdheit, Verständni­s und Misstrauen, Hoffnung und Wut, Liebe und Verzweiflu­ng; und dass Kleeberg auch gar nicht versucht, daraus die eine Botschaft zu formen, außer der, dass wir mit der Vielschich­tigkeit dieses Verhältnis­ses verantwort­ungsvoll umgehen müssen – eben das macht ihn zu einem Anti-Sarrazin. Manchmal ist gerade die Poesie offener für die Wirklichke­it.

» Michael Kleeberg: Der Idiot des 21. Jahrhunder­ts.

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Foto: Picture Alliance Tausend Jahre älter als Shakespear­e und eine Inspiratio­n für Kleeberg ist das hier dargestell­te arabische Liebesepos um „Leila und Madschnun“.

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