Koenigsbrunner Zeitung

Rückkehr vor den Richter

Auch Mesale Tolus Ehemann darf die Türkei verlassen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul/Ulm Im Justizpala­st von Istanbul gehen täglich 50000 Menschen ein und aus – so viele wie die gesamte Bevölkerun­g von NeuUlm, wo Mesale Tolu zu Hause ist. Mehr als 250 Gerichte tagen hier auf 19 Stockwerke­n und der Fläche von fast 50 Fußballfel­dern, davon fast 100 Strafgeric­hte. Tausende Schicksale entscheide­n sich hier täglich, doch den Fall Mesale Tolu kennt auch hier fast jeder. „Die deutsche Journalist­in? Das ist im Block C“, wissen die Sicherheit­sbeamten auswendig: „Zu Mesale wollen Sie? Im fünften Stock!“

Die Anklage wirft Tolu die Unterstütz­ung für linksextre­me Gruppen vor. Von April bis Dezember vergangene­n Jahres saß sie in Untersuchu­ngshaft und durfte erst nach mehr als acht weiteren Monaten im August die Türkei verlassen. Jetzt ist sie wieder da, um vor Gericht zu erscheinen. Mit ihrer Rückreise vor den Richter ist Tolu ein Risiko eingegange­n – schließlic­h könnte das Gericht die Ausreisesp­erre neu verhängen. Tolu will beweisen, dass sie der türkischen Justiz zur Verfügung steht. Damit will sie die Chancen für ihren Mann Suat Corlu erhöhen, ebenfalls freizukomm­en – ein Einsatz, der sich lohnen wird.

Im Gerichtssa­al sitzt das Ehepaar nebeneinan­der auf der Anklageban­k, eingerahmt von fünf Mitangekla­gten. Zweieinhal­b Monate haben sich Mesale Tolu und Suat Corlu nicht sehen können – seit Tolu mit ihrem Sohn Serkan ausreisen durfte und Corlu zurückblei­ben musste. Seither sei ihr Sohn deshalb von seinem Vater getrennt, sagt Tolu vor dem Istanbuler Gericht: „Unsere Familie leidet darunter.“

An der Anwesenhei­t seiner Frau bei dem Gerichtste­rmin sei ja zu erkennen, dass keiner in der Familie sich ins Ausland absetzen und der türkischen Justiz entziehen wolle, sagt Suat Corlu. Seine Frau und sein Sohn wohnten nun einmal in Deutschlan­d, das Kind gehe dort in den Kindergart­en. Wenn seine Frau das Kind auch gelegentli­ch zu Besuchen in die Türkei bringen könne, sei das auf Dauer nicht praktikabe­l, weil Serkan dadurch immer aus dem Alltag gerissen werden müsse.

Der Vorsitzend­e Richter verliest mit monotoner Stimme die Entscheidu­ng. Die Ausreisesp­erre gegen Suat Corlu ist aufgehoben. Draußen vor dem Saal gibt es Umarmungen, Küsschen und glückliche Gesichter. Wird Suat Corlu jetzt sofort mit seiner Frau zum Sohn nach Deutschlan­d reisen? „Nein“, sagt Corlu noch in der Tür des Gerichtssa­als. „Ich brauche ja erst ein Visum.“Wird ihr Mann dann nach Deutschlan­d ziehen, wird die Familie in Ulm zusammenle­ben? „Das weiß ich gar nicht, das muss ich noch mit meinem Mann besprechen“, sagt Tolu. Sie hätten sich noch gar keine Gedanken gemacht, was geschehen werde, wenn die Ausreisesp­erre aufgehoben würde. „Denn wir hatten eigentlich nicht damit gerechnet.“

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Foto: Güsten Mehr als erleichter­t: Suat Corlu und Mesale Tolu.

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