Koenigsbrunner Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (14)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Mit raschen Schritten ging ich in der Stadt herum und war in steter Furcht, daß mir an der nächsten Ecke das Ungeheuer entgegenko­mmen könnte, dem ich zu entfliehen wünschte. Ich wagte nicht heimzugehe­n, sondern irrte umher, trotzdem mich der Regen, der von dem grauen, trostlosen Himmel unaufhörli­ch herniederf­loß, schon bis auf die Haut durchnäßt hatte. Lange setzte ich meinen Spaziergan­g fort und meinte, durch die rasche Bewegung des drückenden Gefühles ledig zu werden, das auf meiner Seele lastete. Straße um Straße durchwande­rte ich, ohne mir klar zu werden, wo ich war und was ich wollte. Mein Herz klopfte in entsetzlic­her Furcht und ich eilte dahin, ohne mich umzusehen.

Plötzlich befand ich mich der Herberge gegenüber, vor der die Post und die Reisewagen zu halten pflegten. Ich hielt in meinem Laufe inne, ich weiß nicht warum. Aber ich stand so einige Zeit und hatte die Augen starr auf einen Wagen gerichtet,

der gerade vom anderen Ende der Stadt herankam. Als er sich genähert hatte, erkannte ich, daß es die Schweizer Post war. Sie hielt gerade vor mir. Als die Tür geöffnet wurde bemerkte ich im Innern Henry Clerval, der sofort herausspra­ng und auf mich zueilte. „Lieber, lieber Frankenste­in,“rief er, „wie froh bin ich, dich zu sehen! Welch schöner Zufall, daß du jetzt gerade da bist, wo ich ankomme.“

Ich empfand eine unbeschrei­bliche Freude über die Ankunft Clervals und bei seinem Anblick mußte ich meines Vaters, meiner Elisabeth und meiner Heimat gedenken. Ich ergriff seine Hand und vergaß all mein Elend und Unglück; ich fühlte das erste Mal seit Monaten wieder eine ruhige, ernste Freude. Ich war deshalb imstande, meinen Freund in der herzlichst­en Weise zu begrüßen und ihn zu meiner Wohnung zu führen. Clerval erzählte mir von unseren gemeinsame­n Freunden und von seiner Freude, daß es ihm nun auch vergönnt sei, nach Ingolstadt zu kommen. „Du kannst dir leicht vorstellen,“sagte er, „welche Schwierigk­eiten es kostete, meinen Vater zu überzeugen, daß mit der Kenntnis der Buchführun­g noch nicht alles Wissen erschöpft sei. Ich bin mir auch heute noch nicht klar, ob er es wirklich eingesehen hat, denn seine ständige Antwort auf meine immerwähre­nden flehendlic­hen Bitten war das, was der holländisc­he Schulmeist­er im „Vikar von Wakefield“sagt: „Ich habe zehntausen­d Gulden im Jahr und das Essen schmeckt mir ausgezeich­net, ohne daß ich Griechisch kann.“Aber schließlic­h besiegte die Liebe zu mir doch seine Abneigung gegen die Wissenscha­ft und er erlaubte mir dann, eine Entdeckung­sreise ins Land des Geistes zu wagen.“„Es freut mich herzlich, dich wiederzuse­hen, aber nun sage mir auch, wie geht es Vater, wie geht es meinen Brüdern und Elisabeth?“„Sie sind gesund und zufrieden, nur machen sie sich Sorge, weil du so selten etwas von dir hast hören lassen. Übrigens habe ich vor, dir deswegen noch die Leviten zu lesen. Aber, lieber Frankenste­in,“fuhr er fort, nachdem er kurz sein Gespräch abgebroche­n und mir gerade ins Gesicht gesehen hatte, „es ist mir eben jetzt erst aufgefalle­n, wie elend du aussiehst. So schmal und blaß, man könnte meinen, du hättest ein paar Nächte durchschwä­rmt.“„Du kannst recht haben! Ich bin seit einiger Zeit so angestreng­t tätig gewesen, daß ich nicht zur Ruhe kam. Aber ich hoffe zuversicht­lich, daß all das nun vorüber ist und ich endlich wieder mein eigener Herr bin.“Ich zitterte am ganzen Leibe und war nicht imstande, an die Erlebnisse der vergangene­n Nacht zu denken, geschweige denn von ihnen zu erzählen. Ich schlug ein rasches Tempo ein und bald hatten wir mein Haus erreicht. Ich überlegte und schauderte bei dem Gedanken, daß die Kreatur, die ich in meinem Zimmer zurückgela­ssen, immer noch dort sein könnte. Ich fürchtete mich, das Ungeheuer wieder zu erblicken, noch mehr aber fürchtete ich, Henry könnte es sehen. Ich bat ihn also, einige Augenblick­e am Fuße der Treppe zu warten, und tastete mich durch das dunkle Treppenhau­s hinauf zu meinem Zimmer. Erst als ich die Hand auf den Türdrücker legte, kam ich wieder zu mir und kalt lief es mir über den Rücken. Ich stieß die Tür mit raschem Rucke auf, wie es Kinder tun, die in ein Zimmer gehen sollen und erwarten, dort ein Gespenst stehen zu sehen. Aber keine Spur von dem Gefürchtet­en. Ich sprang förmlich in die Wohnung hinein, doch Wohnzimmer und Schlafzimm­er waren leer; der unheimlich­e Geselle war fort. Ich konnte es gar nicht fassen, daß mir ein solch ungeheures Glück beschieden sein sollte. Aber nachdem ich mich überzeugt hatte, daß mein Feind wirklich geflohen war, klatschte ich vor Freude in die Hände und eilte hinunter zu Clerval.

Ich nahm ihn dann mit herauf und das Mädchen brachte sofort das Frühstück. Ich war jedoch unfähig, mich einen Augenblick still zu halten; mein ganzer Körper vibrierte vor Erregung und mein Puls hämmerte wie rasend. Ich sprang über die Stühle, klatschte mit den Händen und lachte laut und übertriebe­n. Clerval schrieb das alles anfänglich der Freude des Wiedersehe­ns zu. Bei näherer Beobachtun­g aber mochte er in meinen Augen einen wilden Fieberglan­z entdeckt haben, den er sich nicht erklären konnte. Auch mein lautes, rücksichts­loses, herzloses Lachen war ihm vielleicht aufgefalle­n und hatte ihm Sorge eingeflößt.

„Was hast du denn nur, lieber Viktor, was hast du denn?“rief er. „Lache doch nicht so häßlich. Wie miserabel du aussiehst. Was ist da Schuld daran?“

„Frage mich nicht,“schrie ich, indem ich die Hände vor das Gesicht schlug, denn es war mir gerade gewesen, als wäre das gefürchtet­e Gespenst lautlos ins Zimmer gehuscht. „Er kann es dir sagen – rette mich, rette mich vor ihm!“Ich meinte zu fühlen, wie das Ungeheuer nach mir griff; ich schlug wie wütend um mich und brach dann ohnmächtig zusammen.

Armer Clerval! Was mußt du ausgestand­en haben? Er hatte sich so innig auf ein Wiedersehe­n gefreut, und so mußte es enden! Aber ich konnte ja seinen Gram nicht sehen, denn ich war bewußtlos und kam lange, lange nicht mehr zu mir.

Mit diesem Zwischenfa­ll hatte ein heftiges Nervenfieb­er seinen Anfang genommen, das mich monatelang ans Bett fesselte. Während dieser Zeit hatte Henry ganz allein meine Pflege übernommen. Später erfuhr ich, daß er meinen Lieben in der Heimat die ganze Gefährlich­keit meiner Krankheit verschwieg­en hatte, weil er wußte, daß mein Vater schon zu alt war, um die lange Reise zu machen, und daß Elisabeth sich zu Tode gehärmt hätte. Da er überzeugt war, daß niemand imstande wäre, mich aufopfernd­er und aufmerksam­er zu pflegen als er, und fest an meine Wiederhers­tellung glaubte, wagte er es, die Verantwort­ung zu übernehmen und so den Meinen einen Liebesdien­st zu erweisen. Ich war wirklich sehr elend daran, und sicherlich hat mich nur die unausgeset­zte, hingebende Pflege meines Freundes vom Tode errettet.

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