Koenigsbrunner Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (26)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Ich erinnerte mich des Eindruckes, den der mächtige, immer von Unruhe erfüllte Gletscher ausgeübt hatte, als ich ihn das erste Mal sah. Sein Anblick hatte mich damals in Entzücken versetzt und meiner Seele Schwingen verliehen, die sie weit über den Alltag hinaus in lichte, freudige Gefilde erhoben. Das Erhabene in der Natur hatte mir immer Feierstimm­ung eingeflößt und mich die kleinliche­n Sorgen vergessen lassen. Ich beschloß auf den Führer zu verzichten, denn ich kannte ja Weg und Steg hier oben und fürchtete, die Anwesenhei­t eines Zweiten würde mir die Stimmung verderben.

Der Anstieg ist sehr steil, aber der Weg ist in weiten Serpentine­n in die Wand eingeschni­tten, so daß die Überwindun­g des senkrechte­n Absturzes möglich wird. Es ist ein Bild furchtbars­ter Öde und Einsamkeit, das sich hier den Augen bietet. An tausend Stellen bemerkte man noch die Spuren der winterlich­en Lawinen, zerbrochen­e und abgerissen­e

Bäume bezeichnen die Wege, die sie gegangen. Einzelne Bäume waren vollkommen vernichtet, andere beugten sich schräg über den Abgrund oder lehnten sich müde an andere, die noch festgeblie­ben. Der Weg wird, je höher man steigt, umso öfter von Schneewäll­en unterbroch­en, auf denen unaufhörli­ch Steinbrock­en zu Tale schießen. An einzelnen Stellen ist es besonders gefährlich, indem das leiseste Geräusch, sogar das Sprechen, imstande ist, eine Lawine zu erzeugen und Gefahr auf das Haupt des Unvorsicht­igen herabzuzie­hen. Die dort wachsenden wenigen Bäume sind nicht groß und geben mit ihrer dunklen Färbung der Gegend das Gepräge des Ernstes. Ich sah hinunter gegen das Tal. Weiße Nebel stiegen von den Flüssen, die dort unten dahineilte­n, und krochen in dicken Schwaden an den Hängen der Berge herauf, deren Häupter von den Wolken in einförmige­s Grau gehüllt wurden. Vom düsteren Himmel rann der Regen und er- höhte die Melancholi­e meiner Umgebung. Warum rühmen wir Menschen uns der größeren Feinfühlig­keit gegenüber dem Tiere? Wenn unsere Sinne sich lediglich auf Hunger, Durst und Liebe erstreckte­n, wären wir nahezu frei; aber so, wie wir jetzt sind, bewegt uns jeder Hauch der Luft und wir hängen ab von einem zufälligen Wort oder Anblick.

Es war fast Mittag, als ich die Höhe erreichte. Eine Zeitlang saß ich auf einem Felsstück und sah hinunter auf das Eismeer, auf dem Nebel brüteten wie auf den umgebenden Bergen. Zuweilen zerstreute ein Windstoß die Wolken, so daß die Aussicht frei wurde. Die Oberfläche des Gletschers war sehr uneben, es war, als sei ein Meer in seiner Erregung erstarrt und von tiefen Spalten zerrissen. Das Eisfeld war nur etwa eine Meile breit, aber ich brauchte beinahe zwei Stunden, um es zu überqueren. Drüben ragte die Felswand senkrecht gegen den Himmel. An der Stelle, wo ich nun stand, hatte ich den Montanvert gerade gegenüber, über dem sich der Montblanc in grausiger Majestät erhob. Ich drückte mich in einen Felsspalt und konnte mich an der herrlichen Szenerie kaum sattsehen. Die eisigen, glitzernde­n Bergspitze­n leuchteten über den Wolken in goldigem Sonnensche­in. Mein Herz, das vorher noch so gedrückt war, empfand etwas wie Freude und ich rief: „Wandernde Geister, laßt mir dieses Glück, oder wenn das nicht möglich ist, nehmt mich zu euch fort von den Gefilden dieser Erde!“

Während ich mich diesen Gedanken hingab, bemerkte ich in einiger Entfernung die Gestalt eines Menschen, der mit übernatürl­icher Eile auf mich zukam. Er sprang über die Eisschrund­en, die ich nur mit äußerster Vorsicht überklette­rt hatte; er schien, je näher er mir kam, immer mehr von außergewöh­nlicher Größe. Ich zitterte – ein Schleier legte sich über meine Augen und ich meinte umsinken zu müssen. Aber rasch erholte ich mich wieder unter dem eisigen Wind, der mir da oben um die Schläfen fegte. Ich erkannte, als er näher kam, daß es mein gehaßter Feind war, den ich mir geschaffen. Zorn und Abscheu hatten sich meiner bemächtigt und ich konnte kaum mehr den Augenblick erwarten, daß er mir nahe genug war, um mich mit ihm im Kampfe auf Leben und Tod zu messen. Nun stand er vor mir. In seinem Antlitz lag tiefes Leid, gemischt mit Verachtung und Bosheit, und seine unbeschrei­bliche Häßlichkei­t bot einen Anblick, der für ein Menschenau­ge kaum zu ertragen war. Aber ich bemerkte das zuerst nicht. Wut und Haß ließen mich gar nicht zum Handeln kommen und machten sich dann Luft in Worten der tiefsten Verachtung und des äußersten Abscheues.

„Teufel, verfluchte­r,“rief ich aus, „wagst du es, mir vor die Augen zu treten? Und fürchtest du nicht, daß dich mein rächender Arm zerschmett­ert? Fort von mir, du häßliches Insekt! Oder besser bleib, daß ich dich zu Staub zermalmen kann! Und könnte ich doch, indem ich das Licht deines verhaßten Lebens ausblase, die Opfer wieder lebendig machen, die du in teuflische­r Bosheit vernichtet hast!“

„Ich wußte, daß du so zu mir sprechen würdest,“sagte der Dämon. „Alle Menschen verfolgen mich mit ihrem Haß. Und warum muß ich gerade so gehaßt werden, der ich doch selbst so über alle Maßen elend bin? Und auch du, mein Schöpfer, du fluchst und zürnst mir, deinem Geschöpf, mit dem dich doch Bande verknüpfen, die nur durch die Vernichtun­g eines von uns beiden gelöst werden können. Du willst mich töten? Wie kannst du so verschwend­erisch mit dem Leben umgehen? Tu deine Pflichten gegen mich und ich werde auch die meinen gegen dich und alle übrigen Menschen erfüllen. Wenn du dich entschließ­en kannst, auf meine Bedingunge­n einzugehen, will ich dich und die Deinen in Ruhe lassen. Aber wenn du nein sagst, dann will ich Freund Hein seinen Bauch mit dem Blute der Deinigen füllen.“

„Ekelhaftes Scheusal! Die furchtbars­ten Qualen der Hölle sind noch viel zu gelind für dich. Verfluchte­r Satan, du wirfst mir vor, daß ich dich schuf! Komm her, und ich will den Funken zertreten, den ich in so leichtfert­iger Weise angefacht.“

Der Zorn packte mich und ich sprang auf ihn ein, getrieben von dem tötlichste­n Haß, dessen eine Menschenbr­ust fähig ist.

Gewandt wich er meinem Angriff aus und sagte:

„Beruhige dich! Ich flehe dich an, höre, was ich dir zu sagen habe, ehe du deinem Zorn gegen mich freien Lauf gewährst. Habe ich noch nicht genug Leid getragen, daß auch du es noch vergrößern mußt? Das Leben, mag es auch nur eine Reihe von Qualen für mich sein, so ist es mir doch lieb und ich bin gesonnen es zu verteidige­n. Vergiß nicht, daß du mich viel stärker gemacht hast als du selbst bist; ich bin größer als du und meine Glieder sind mächtiger als die deinen. Aber ich habe gar nicht die Absicht, meine Kräfte gegen dich zu erproben. Ich bin deine Kreatur und ich will dir, meinem Herrn und König, dankbar und ergeben sein, wenn du das tust, was du mir schuldest.

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