Koenigsbrunner Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (33)

Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Mensc

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Er hatte dieses Werk gewählt, weil der Stil des Werkes außerorden­tlich anschaulic­h war.

Der Inhalt jenes Buches regte mancherlei Gedanken in mir an. Waren denn die Menschen wirklich zugleich so mächtig, tugendhaft und groß und doch dabei so lasterhaft und schlecht? Der Mensch erschien mir einmal als der Repräsenta­nt des bösen Prinzips und dann ein andermal wieder als der Inbegriff des Edlen und Göttlichen. Ein großer, tugendhaft­er Mensch zu sein, das mußte doch das Herrlichst­e bedeuten, was sich ein denkendes Wesen vorstellen kann; und als tiefste Erniedrigu­ng erschien es mir, lasterhaft und schlecht zu sein, ein Leben zu führen, das nutzloser war als das des blinden Maulwurfs oder des harmlosen Wurmes. Lange konnte ich es überhaupt nicht begreifen, daß es Wesen gäbe, die imstande waren, ihresgleic­hen zu morden, und warum es Gesetze und Regierunge­n gab. Aber als ich von Verbrechen und Blutvergie­ßen erzählen

hörte, wunderte ich mich nimmer, sondern wandte mich voll Ekel und Abscheu ab.

Jedes Gespräch der Hausbewohn­er eröffnete mir neue Perspektiv­en. Bei Gelegenhei­t der Belehrunge­n, die Felix der Fremden gab, erfuhr ich auch von dem seltsamen System der menschlich­en Gesellscha­ft. Ich hörte von Teilung des Besitzes, von unermeßlic­hen Reichtümer­n und entsetzlic­hster Armut, von Rang, Abkunft und edlem Blute.

Dieses Kapitel veranlaßte mich, über mich selbst nachzudenk­en. Ich sah, daß das, was meine Mitmensche­n als das Höchste betrachten, edle, fleckenlos­e Abkunft und Reichtum sind. In seltenen Fällen mochte es ja vorkommen, daß einer, der nur einen dieser beiden Vorzüge besaß, geachtet war; meistens aber betrachtet­e man einen solchen Menschen als Lump oder Sklaven, der lediglich dazu da ist, seine Kräfte im Dienste weniger Auserwählt­er zu verbrauche­n. Und was war ich? Ich wußte von meiner Entstehung, von meiner Abkunft gar nichts; aber das wußte ich, daß ich kein Geld, keine Freunde mein eigen nannte. Außerdem war ich noch besonders häßlich und mißgestalt­et und nicht einmal dasselbe Wesen wie ein Mensch. Ich war bewegliche­r als ein solcher und kam mit weniger Nahrung aus; ich ertrug mit größerer Gleichgült­igkeit Kälte und Hitze und war an Größe und Kraft weit überlegen. Aber wenn ich um mich sah, fand ich niemand, der mir glich. Ich war also eine Abnormität, ein Ungeheuer, ein Schandflec­k der Schöpfung, den alle Menschen flohen und von sich stießen.

Ich würde vergebens versuchen, dir die Qualen zu schildern, die diese Gedanken in mir wachriefen. Ich wollte ihrer Herr werden, aber mein Leid wuchs nur, je mehr ich darüber nachsann. O, daß ich doch immer in meinem Walde geblieben wäre und nicht gelernt hätte, etwas anderes zu fühlen als die Regungen des Hungers und des Durstes!

Welch seltsames Ding ist doch das Wissen! Es klammert sich an unser Inneres, wie eine Flechte an den Stein. Ich hätte oft gewünscht, all das Fühlen und Denken von mir abschüttel­n zu können. Aber ich erfuhr auch, daß es gegen all diese Schmerzen nur ein einziges Heilmittel gibt – den Tod, einen Begriff, den ich fürchtete, den ich aber nicht zu fassen vermochte. Ich bewunderte die Tugend und alle hohen, edlen Gefühle und liebte die schönen, guten Menschen, dich ich bis jetzt, allerdings nur von Ferne, kennen gelernt hatte. Aber vom Verkehr mit ihnen war ich ausgeschlo­ssen, wenn ich nicht das, was ich mir verstohlen ansah, als solchen bezeichnen will und das meine Begierde, einer von ihnen zu sein, nur noch mehr anstachelt­e. Die freundlich­en Worte Agathes, das liebliche Lächeln der Fremden waren nicht für mich berechnet, und die milden Worte des Greises und die klugen Reden des jungen Mannes richteten sich nicht an mich. Elender, armer Wicht der ich war!

Andere Dinge, die ich hörte, wirkten noch niederdrüc­kender auf mich. Ich erfuhr vom Unterschie­d der Geschlecht­er, von der Geburt und der Erziehung der Kinder; von dem glückliche­n Lächeln des Vaters, von der Liebe und Hingebung der Mutter; von Bruder, Schwester und all den anderen Verwandtsc­haftsgrade­n, die die Bande bezeichnen, die die Menschen unter einander bindet.

Aber wer sind meine Freunde und Verwandten? Kein Vater hat meine Kinderjahr­e behütet, keine Mutter mir ihre Liebe und Zärtlichke­it geschenkt; oder wenn es doch so war, dann war mein bisheriges Leben ein Traum, von dem ich nichts mehr weiß. So weit meine Erinnerung reichte, ich war immer derselbe, wie ich damals war, und hatte an Größe und Gestalt mich nicht verändert. Ich kannte niemand, der mir ähnlich war oder der sich die Mühe genommen hätte, sich mit mir zu beschäftig­en. Was war ich, woher kam ich? Das waren die Fragen, die sich in mir erhoben und auf die ich keine Antwort fand als meine Seufzer.

Wohin mich diese Gefühle brachten, will ich nun erzählen. Aber zuerst möchte ich noch einmal von jenen Menschen sprechen, deren Leben in mir zugleich Entrüstung, Entzücken und Verwunderu­ng wachrief und in denen ich in unschuldig­er, wonniger Selbsttäus­chung meine Beschützer sah.

14. Kapitel

Es währte einige Zeit, ehe ich etwas aus dem Leben meiner Freunde erfuhr. Die mannigfach­en Umstände, die darin eine Rolle spielten, verfehlten nicht, auf mich, der ich so gänzlich unerfahren war, einen tiefen Eindruck zu machen.

Der alte Mann hieß de Lacey. Er stammte aus einer guten französisc­hen Familie und war bei seinen Standesgen­ossen geachtet und beliebt. Sein Sohn stand im Kriegsdien­ste und seine Tochter verkehrte mit den vornehmste­n Damen. Noch wenige Monate vorher hatten sie in einer großen, prächtigen Stadt, die Paris hieß, gelebt, umgeben von guten Freunden, und erfreuten sich alles dessen, was mäßiger Reichtum zu bieten vermag.

Der Vater Safies war der Urheber ihres Unglücks. Er war ein türkischer Kaufmann und hatte lange Jahre in Paris gewohnt, als er, ich weiß nicht aus welchem Grunde, der Regierung verdächtig wurde. Er wurde gefangen genommen und in den Kerker geworfen, am gleichen Tage als Safie aus Konstantin­opel eintraf. Er wurde verhört und zum Tode verurteilt. Die Ungerechti­gkeit dieses Richterspr­uches lag klar zu Tage und ganz Paris war darüber empört. Man vermutete wohl mit Recht, daß seine Religion und sein Reichtum mehr zu seiner Verurteilu­ng beigetrage­n hatten, als das ihm zur Last gelegte Verbrechen.

Felix war zufällig in der Gerichtsve­rhandlung gewesen und hatte mit Entsetzen und Entrüstung den Richterspr­uch vernommen. In diesem Augenblick­e hatte er sich feierlich gelobt, den Verurteilt­en zu befreien, und sich sofort an die Ausführung seines Vorhabens gemacht.

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