Der Erste Weltkrieg im Zigarrenkasten
„Mit treudeutschem Gruß“heißt das Werk der Langerringer Autorin. Sie entziffert mehr als 100 Briefe von der Front. Es geht um ein bewegendes Schicksal
Langerringen Da steht er auf dem Schreibtisch von Rebecca Ngu’Ewodo in Langerringen: der Erste Weltkrieg im Zigarrenkasten. Darin befinden sich fein säuberlich sortiert viele Briefe von der Front von Friedrich Talg aus Soltau. Er ist ein junger Mann, der – wie Millionen andere Soldaten – an der Front gefallen ist.
Diesen Zigarrenkasten mit Friedrich Talgs Briefen übergab seine wesentlich jüngere Halbschwester Luise vor ihrem Tod im Jahr 2004 an Rebecca Ngu’Ewodo und sagte „Mach was Gutes draus“. Die Langerringerin hat etwas Gutes daraus gemacht: ein Buch. Hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges holt die Autorin diesen jungen Mann aus dem Meer der Anonymität, berichtet über sein Schicksal, veröffentlicht alle Briefe und viele Fotos.
Die 53-Jährige, die unter dem Pseudonym Caro Clement schreibt, kennt Friedo, wie ihn Freunde und Kameraden nannten, natürlich nicht. Aber sie will ihr Versprechen an „Tante Luise“– eine Freundin des Großvaters – halten. „Ihr war es wichtig, dass Friedo nicht vergessen wird. Er hat ja kein Grab“, sagt sie.
Nach der Übergabe der Briefe passiert aber erst mal gar nichts. Rebecca Ngu’Ewodo hat mit Krankheiten zu kämpfen, zieht zwei Kinder groß und steht voll im Berufsleben. Da bleibt wenig Zeit. Doch dann irgendwann macht sie sich an die Arbeit, da es ihr ein Anliegen ist, das Gedenken an diesen jungen Soldaten zu bewahren. Die Autorin entziffert in mühsamer Kleinarbeit zwei Jahre lang die einhundert Briefe in Sütterlinschrift. „Das war schwierig, denn die Schrift können wir gar nicht mehr lesen, alles ist mit Bleistift an der Front handgeschrieben“, erzählt sie. Mit jedem Brief – und so geht es auch dem Leser des Buchs – kommt einem Friedo emotional ein Stück näher.
Das Buch startet mit dem jungen Soldaten und seiner anfänglichen Begeisterung, an der Front für sein Vaterland zu kämpfen. Immer in der Hoffnung, ja bald wieder nach Hause zu kommen, da der Krieg ja bald gewonnen sei. Ein Foto von ihm zu dieser Zeit ist ebenfalls abgebildet. Es entsteht Anfang August 1914 in Augsburg beim Fotografen „Drabe und Sternbacher“in der Morellstraße. Da ist Friedo Talg 23 Jahre jung und sieht noch sehr bubenhaft aus. Später folgen Fotos von 1916 und Februar 1917, zwei Monate vor seinem Tod. Knapp drei Jahre Krieg haben ihn optisch krass verändert.
Mit jedem Brief schwindet aber die Hoffnung Friedos, den Krieg zu gewinnen oder bald nach Hause zu dürfen. Der Leser zittert mit, wenn es um seinen lang ersehnten Fronturlaub geht, der ihm Monat für Monat verwehrt wird.
„Heute in vier Wochen ist der 1. Weihnachtsfeiertag, wo werde ich dann sein?
Eine Woche nach der anderen vergeht, ich habe direkt eine krankhafte Sehnsucht danach seit langem einmal wieder Weihnachten in Eurem lieben Kreise feiern zu können. Im vorigen Jahre da sorgtet Ihr für mich, daß ich nicht zu sehr zu fühlen brauchte, wie schwer es doch ist; so einsam und allein im feindlichen Gebiet stehen zu müssen“, schreibt er.
Erleichterung macht sich ein paar Briefe später breit, als klar wird, dass er heim darf. Für sieben Tage. Es ist das letzte Mal, dass er seine Familie sieht. Seine Eltern, die ihm regelmäßig Pakete an die Front schicken, obwohl sich in der einst wohlhabenden Familie mittlerweile auch die Armut ausbreitet. Und seine kleine Schwester Luise, an der er einen Narren gefressen hat. Sie ist es, die seine Briefe viele Jahrzehnte später kurz vor ihrem Tod im Alter von 92 Jahren an Rebecca Ngu’Ewodo weitergibt.
Einmal gelingt es Friedo, einen Brief an der Zensur der Feldpost vorbei über Umwege über die zivile Post zu schicken, darin schildert er die Zustände bei Ankunft vor Ort in Frankreich.
„Endlich ging es in die Kirche. Auf einer Bank sitzend, sich schüttelnd vor Frost, verbrachten wir die Nacht. Die Nacht danach lagen wir in einer Scheune. Ratten waren unsere Genossen. Es sah aus als wären wir von Gott und der Welt verlassen . ... Eine Adresse hatten wir nicht, konnten auch nichts schreiben. Als wir eine Adresse bekamen, durfte nichts drin stehen, als es geht mir gut, ich bin noch am Leben. Alles andere wurde zerrissen und vernichtet. Einer hatte geschrieben, schickt mir was zu essen, seit acht Tagen bekommen wir nur von weitem was zu sehen. Das Schreiben wurde zerrissen, der Mann sollte eingesperrt werden .... Ungefähr fünf Minuten vor uns liegen die Franzosen in wohlbefestigten Stellungen, wir dagegen liegen direkt am Waldesboden, eine ausgebaute Stellung gibt es nicht, wohl gibt es Gräben, doch sind diese bis an den Rand voll Wasser, springt man hinein, kommt man bis an den Hals drin zu sitzen.“
Statt von Krieg spricht er nur noch von „Schwindel“. Friedo kommt die Erkenntnis, dass der Kampf sinnlos ist, dass ihm die gegnerischen Soldaten ebenso wenig getan haben wie er ihnen. Der Mut verlässt ihn von Brief zu Brief.
„Bis jetzt befinde ich mich noch wohl, wie lange noch, weiß ich nicht! Hier in dieser Gegend ist ein einzelnes Leben nichts, wo jeden Tag tausende ihr Leben lassen müssen“, schreibt er aus Verdun.
Auch Rebecca Ngu’Ewodo bemerkt einen Wandel in den Briefen. Ein halbes Jahr vor seinem Tod sei er seelisch gebrochen. „An der Schrift kann man seinen Gemütszustand ablesen. Sie kippt nach hinten“, erklärt sie.
Die Autorin analysiert jeden Brief, ergänzt ihn mit eigenen Erinnerungen an die Gespräche mit Luise und ihrer Mutter über die ein oder andere Begebenheit. Sie versucht zu erklären, warum Friedo so lange durchhält, warum er sich nicht den Franzosen stellt, als er die Möglichkeit dazu hat. Gefangenschaft ist schließlich besser als der Tod.
Die Zeit schreitet voran, der Krieg dauert. Friedo ist mürbe und müde. Er überlebt diesen Tag und den nächsten und den übernächsten. Doch irgendwann kommt bei den Eltern keine Feldpost mehr von Friedo an, sondern die Todesnachricht mit der Überschrift „Betrifft Todesfall“. Friedo Talg ist am 20. April 1917 gefallen. Von Heldentod ist in dem Brief die Rede. Sein Nachlass liegt dem Schreiben ebenfalls bei: eine Namensplakette vom Spind, die Nachlasskarte und der Einzahlbeleg für den Nachlass an Friedos Familie in Höhe von 7,20 Mark. Das ist alles, was von Friedo Talg übrig ist. Es liegt ebenfalls auf dem Schreibtisch der Autorin, neben dem Zigarrenkasten. Das Buch „Mit treudeutschem Gruß“von Caro Clement kostet 16,99, ist im Tredition Verlag erschienen und kann in der Buchhandlung Schmid in Schwabmünchen gekauft oder unter der ISBN 978-3-7469-0312-5 bestellt werden.