Glücksmomente
Es heißt doch immer, die großen Dinge sind die Sahnehäubchen im Leben: Hochschulreife, Hochzeit, Hausbau. Glück. Stimmt das gar nicht? Über den Wert des Alltags und eine vom Schicksal geprüfte Frau, die sagt: Ich kenne niemanden, der glücklicher ist
Funktioniert das auch im Fitnessstudio? Gerhard Reischle, grauer Schnauzer, trägt eine schwarze Hose mit der Aufschrift „seventy sixx“. Tatsächlich ist er schon 79. Reischle steht vor einem Spiegel, in beiden Händen eine Drei-Kilo-Hantel, und macht kreisende Armbewegungen. Ob ihn Sport glücklich macht? „Ja“, sagt er, ohne zu überlegen, und lächelt. „Das fängt schon Zuhause an. Da freue ich mich, dass es hierher geht.“Er verspüre dann eine gewisse Genugtuung, dass das in seinem Alter noch möglich ist. Und schon plaudert er, erzählt, dass er im Sommer Leichtathletik macht. Klasse M 80. Er sieht gute Chancen, bei den Wettkämpfen so abzuschneiden, dass er auf der deutschen Rangliste wieder weit vorne landet. „Meine Spezialität ist Hochsprung.“
Früher, sagt er, als er noch im Außendienst tätig war, habe er immer Sportsachen im Auto gehabt und gewusst, wo es Sportplätze oder einen Wald gibt. Um halb fünf, nach der Arbeit, wenn die Kollegen schon beim ersten Bier im Hotel saßen, ging er lieber Laufen. Und danach zum Duschen ins Hotel und gemütlich zum Abendessen. „Das war für mich ein Glücksgefühl“, sagt Reischle. Das Gefühl, etwas geschafft zu haben.
Das Gefühl ist ihm geblieben. „Glück ist etwas sehr Aktives“, sagt Forscher Anton Bucher. Aber das muss nicht immer Sport sein. Glück, so seine Erkenntnis, finden Menschen, die in ihrem Handeln etwas erschaffen. Oder wie Bucher es ausdrückt: „Es gibt wenig, was einen glücklicher machen kann, als an einem Tisch zu sitzen, den man selbst gezimmert hat.“
Womöglich ist das ja der entscheidende Punkt. Dass Glück für jeden etwas anderes bedeutet. Und sich die Vorstellung davon im Laufe eines Lebens ständig ändert.
Aus einer großen Studie mit mehr als 100 000 befragten Personen weiß Professor Bucher beispielsweise: „Kindheit ist ein hohes Glück.“Doch schon kurz darauf, in der Jugend, folge die unglücklichste Zeit. „Das ist eine Phase, die mit sehr viel Unsicherheit verbunden ist“, erklärt der Glücksforscher.
Ist die Jugend überwunden, steigt bei den meisten Menschen die Glückskurve wieder an. Im jungen Erwachsenenalter tut sich viel: Studium, die erste große Liebe, Familienplanung. Die Geburt eines Kindes ist zwar für Paare ein glückliches Ereignis. Doch: „Die Sorge um die Kinder macht viele Eltern unglücklich“, sagt Bucher. Ein Tiefpunkt sei die Jugend des Kindes. „Die meisten Eltern sind froh, wenn die Kinder das Haus verlassen“, resümiert Bucher. Das trifft auch mit einem Anstieg der Glückskurve mit Mitte 40, Anfang 50 zusammen. Im Leben von Gisela Steinhaus, der Augsburgerin mit den unfassbar vielen Tiefschlägen, sind die Jahre zwischen 50 und 60 die schönsten. Sie wohnt mit ihrem Lebensgefährten Martin zusammen und ist beruflich auf dem Höhepunkt. Dann holt sie das Schicksal wieder ein. Martin erkrankt an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Die Überlebenschancen sind gering. Immer und immer wieder spricht sie ihm gut zu: Wenn sie den Krebs besiegt hat, dann schafft er es vielleicht auch. Doch er schafft es nicht. Martin stirbt in ihren Armen. Einen Tag vor ihrem 60. Geburtstag bestattet Gisela Steinhaus ihren sieben Jahre jüngeren Lebensgefährten.
„Was muss ich noch ertragen?“, fragt sie sich. Sie ist verzweifelt. „Jeder Schicksalsschlag ist auf seine eigene Art schlimm. Martins Tod hat mich emotional am meisten mitgenommen.“
Zehn Jahre ist das nun her. Heute sagt Gisela Steinhaus, dass sie wieder zu ihrem Glück gefunden hat. Ihr Blick auf das Leben habe sich gewandelt. „Aus jedem Schicksalsschlag, den ich erlebt habe, konnte ich etwas Positives ziehen.“Jeder einzelne habe sie stärker, widerstandsfähiger gemacht.
In der Wissenschaft nennt man das Resilienz. Menschen können eine starke Widerstandskraft entwickeln, sagt Professor Bucher. „Das ist wie bei Weizenähren: Kommt Wind, beugen sie sich, doch sie bewegen sich von allein wieder nach oben.“Glück gehe also nicht unwiederbringlich verloren. Man muss nur seinen eigenen Blick verändern, sagt Gisela Steinhaus: „Das Leben ist schön, weil man selbst in dunkelsten Stunden weiß, dass man wieder glücklich werden kann.“