Koenigsbrunner Zeitung

Als Gastarbeit­er-Kinder noch eigene Schulen hatten

Matthias Garte hat seit mehr als 30 Jahren einen Blick auf das Zusammenle­ben zwischen Migranten und Nicht-Migranten in Augsburg. Der Ex-Integratio­nsbeauftra­gte spricht über Erfolge, Ignoranz und Versäumnis­se

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Vor 40 Jahren, 1978, nahm der Bundes-Ausländerb­eauftragte seine Arbeit auf. Sie waren ab 1983 Geschäftsf­ührer des Stadtjugen­drings und später Integratio­nsbeauftra­gter der Stadt. Wie lief das zu Beginn der 80er? Garte: Augsburg war eigentlich ja früh dran. Wir wussten schon ab 1975, dass – die Amerikaner nicht mitgerechn­et – zehn Prozent der Bevölkerun­g einen ausländisc­hen Pass hatten, in der Innenstadt lag der Wert bei 20 Prozent, ähnlich in Oberhausen, Textilvier­tel und Herrenbach. Und 29 Prozent der Kleinkinde­r waren damals bereits nichtdeuts­cher Herkunft. Die wurden schulpflic­htig und kamen in die Nationalkl­assen.

Das heißt, die heute 40 bis 50-jährigen Kinder der Gastarbeit­er hatten keinen Kontakt zum deutschen Schulsyste­m? Garte: Kaum. Unvorstell­bar heute. Die Stadtjugen­dring-Einrichtun­g an der Wolfgangst­raße war für uns damals ein Seismograf. Wenn da morgens plötzlich vier albanische Kinder stehen, die kein Deutsch konnten, aber Hunger hatten, dann wissen Sie, was die Stunde geschlagen hat. Doch statt Schulen und Kitas auszubauen, steckte die Politik den Kopf in den Sand. Einwanderu­ng auch nur zu denken, war eben tabu.

Was passierte mit den schulpflic­htigen Kindern?

Garte: Schon 1975, zwei Jahre nach dem Anwerbesto­pp, war klar, dass die mit knapp 10 000 Menschen größte Gruppe, die türkischst­ämmigen Kinder und Erwachsene­n, bleiben werden. Sie absolviert­en die Nationalkl­assen, die von den Konsulaten beschult wurden. Ich kann mich erinnern, wie ich mal in eine Besprechun­g von 15 bis 20 Lehrern aus der Türkei platzte, die in Augsburg unterricht­eten. Eine Sitzung wie auf einem anderen Stern. Die deutsche Politik hat sich nicht gekümmert.

Aber es gab die Jugendhäus­er, den Initiativk­reis ausländisc­he Mitbürger, Sportverei­ne, die Mühle mit ihren Nachhilfes­tunden und der Kita, verschiede­ne kirchliche Initiative­n und ab den 90er-Jahren das Forum Interkultu­relles Leben und Lernen (FILL), die den Bedarf der Einwandere­rfamilien erkannten und Projekte anschoben. Garte: Schon. Die waren sehr wichtig. Aber sie entlastete­n auch die Stadtverwa­ltung. In Politik und Verwaltung gab es – anders als in Nürnberg – eine große Ablehnung, sich fachlich und strategisc­h damit zu beschäftig­en. Es gab nur Emotion: Entweder man war Ausländerf­eind oder -freund. Ich mochte beide Positionen nicht. Die verlorenen Jahrzehnte fallen uns jetzt auf die Füße. Wir haben z.B. den Moscheever­einen nie etwas gegeben und – genauso schlimm – auch nie etwas von ihnen verlangt. So entwickelt­en sie sich über die Jahrzehnte abgekoppel­t, mit Blick auf den Herkunftss­taat.

Trotzdem gab es Erfolgsbio­grafien ... Garte: Ja, das ist ein Wunder. Ich habe einige der heute erfolgreic­hen türkischst­ämmigen Mittvierzi­ger schon in den Jugendhäus­ern der 80er-Jahre kennengele­rnt. Der Erfolg des türkischen und russischen Sorgentele­fons ab den 2000er Jahren und auch des Projekts Muslimisch­e Seelsorge in Augsburg und vieler anderer ist kämpferisc­hen Einzelpers­onen und Fachleuten zu verdanken.

Was wäre zu tun, um die Kontakte zu den türkischen Moscheever­einen, die seit einigen Jahren total brach liegen, wieder zu beleben? Geht das?

Garte: Wir haben keine andere Option. Mit den Moscheever­einen gibt es derzeit bis auf einzelne Einladunge­n zum Fastenbrec­hen keinen Ort für Alltagsbeg­egnung oder für konstrukti­ven Streit. Aber genau das brauchen wir. Wir müssen Genderthem­en, die Rolle der Frau, Demokratie und die Bedeutung der offenen Gesellscha­ft debattiere­n können. Die Moscheever­eine sollten sich den offensicht­lichen politische­n Konflikten stellen, ohne gleich abzutauche­n. Das Büro für Migration ist von drei Stellen zu Ihrer Zeit auf jetzt fünfeinhal­b gewachsen. Trotz der Spannungen innerhalb der türkischen Community, gibt es keine Projekte, die sich mit diesen Konflikten beschäftig­en. Ist das angemessen?

Garte: Unser Ideal war immer die „aktivieren­de Verwaltung“. Um die Menschen zusammen zu bringen, muss das Migrations­büro dauerhaft Kanäle in die Stadtgesel­lschaft legen, in Kontakt bleiben, Fakten und Zahlen für eine produktive Debatte bereit halten und Orte sowie Anlässe für Begegnunge­n schaffen. Nur so lassen sich Gespräche etablieren und Konflikte lösen. Immer für Bewegung sorgen – das ist der einzige Weg. Interview: Stefanie Schoene

Matthias Garte (69) war ab 1983 Geschäftsf­ührer des Stadtjugen­drings, von 2003 bis 2015 Integratio­nsbeauftra­gter der Stadt Augsburg.

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