Der Mann, der Niki Lauda gerettet hat
Walter Klepetko transplantiert Organe – vorausgesetzt, es gibt genug davon. In Österreich werden fast dreimal so viele gespendet wie in Deutschland. Weil die Menschen dort widersprechen müssen, wenn sie das nicht wollen. Kann das ein Modell für uns sein?
Wien Mit schnellen Schritten eilt Walter Klepetko, 63, durch die Flure der Wiener Uniklinik. Er ist spät dran. In der vergangenen Nacht haben der Thoraxchirurg und sein Team einem 22-Jährigen eine neue Lunge transplantiert. Für den Patienten war es die zweite, die erste hatte er vor 15 Jahren bekommen.
Für Klepetko sind diese Operationen fast Routine. Er gehörte zum Op-team, als am 9. November 1989, in der Nacht des Mauerfalls, erstmals in Österreich eine Lunge transplantiert wird. Im OP hören sie damals die Radioberichte. Im Laufe von 30 Jahren hat er das Transplantationszentrum an der Klinischen Abteilung für Herz-thorax-chirurgie am Allgemeinen Krankenhaus (AKH) in Wien aufgebaut. Heute gehört es mit Toronto, Cleveland und Hannover zur Weltspitze. 104 Lungen wurden hier 2017 transplantiert. Die Fünf-jahres-überlebensrate liegt bei 80 Prozent.
Klepetko ist trainierter Bergsteiger, denkt schnell und wird leicht ungeduldig, besonders wenn es um die „unsachliche Berichterstattung mancher Medien“über Organspende geht. Klepetko ist einer, der immer wieder in den Schlagzeilen auftaucht. Im Sommer hat er Niki Lauda eine neue Lunge eingesetzt, nach drei Monaten konnte die Rennfahrerlegende das AKH wieder verlassen. Klepetko sagt: „Der Fall Lauda hat schon geholfen. Er hat ein Bewusstsein für etwas geschaffen, was vorher nicht so bekannt war.“Wozu die Mediziner heutzutage in der Lage sind. Und dass man mithilfe einer Transplantation selbst dann eine Chance hat weiterzuleben, wenn die Lunge versagt.
Aber nur wenn genug Spenderorgane zur Verfügung stehen, kann der Chirurg Leben retten. In Österreich stehen pro eine Million Einwohner 23,5 Spenderorgane zur Verfügung. In Deutschland sind es nur 9,3 pro eine Million Einwohner.
In Österreich gilt seit 1982 die Widerspruchslösung, die sich Gesundheitsminister Jens Spahn, möglicherweise etwas verändert, auch für Deutschland wünscht. Danach ist jeder auf österreichischem Gebiet Verstorbene, das gilt selbst für Touristen, automatisch Organspender. Ist der Patient nicht in das sogenannte Widerspruchsregister eingetragen, „sind wir gesetzlich berechtigt, die Organentnahme durchzuführen“, erklärt Klepetko. Verzichtet wird darauf, falls Verwandte sich dagegen wehren oder bei jüdischen oder muslimischen Verstorbenen, deren Religion die Unversehrtheit des Körpers vorschreibt.
Als Siegfried Sorz vor sechs Jahren an Lungenfibrose erkrankte, als er wegen der Zersetzung der Lunge zu ersticken drohte, kam er auf die Warteliste. Im Herbst 2014 wurde er als Notfall in die Klinik eingeliefert. Eine Woche später deutete eine Krankenschwester auf einen startenden Hubschrauber: „Schau’n Sie, der holt jetzt eine Lunge und wenn die passt, dann ist das Ihre.“Die Lunge passte zu seinem Körper. Von wem sie stammt, das weiß der 71-Jährige nicht. Er hat versucht, sich nicht zu viele Gedanken darüber zu machen. Er ist dankbar für die Lungen. Dankbar für die Chance auf ein neues Leben, das am 20. Oktober 2014 begann. Statistisch gesehen, klärte man ihn auf, halte die Lunge zehn bis 15 Jahre. Voraussetzung sei, dass er die Medikamente regelmäßig nimmt.
Österreich ist ebenso wie Deutschland, die Benelux-staaten, Kroatien, Ungarn und Slowenien Mitglied von Eurotransplant. Zu ihr gehören 81 Transplantationszentren. Sie haben ein gemeinsames Spendermeldesystem und eine zentrale Warteliste mit 15000 Patienten. Kriterien für die Vergabe sind neben der Dringlichkeit die Aussicht auf Erfolg, die Wartezeit und die nationale Organaustauschbilanz. Für jedes Organ sind sie unterschiedlich. „Bei einer Herz- oder Lungentransplantation steht die Dringlichkeit absolut im Vordergrund, nicht die Zeit auf der Warteliste“, erklärt Klepetko.
Die Uniklinik in Wien hat ein Alleinstellungsmerkmal in Sachen Transplantation – auch aufgrund des persönlichen Engagements von Klepetko. „Unique auf der ganzen Welt“, sagt der Chirurg, und man hört den Stolz in seiner Stimme. Als die Mauer fiel, baten ihn Kollegen aus Nachbarländern um Hilfe, die selbst nicht die Möglichkeit hatten, Lungen zu transplantieren. „Es gab den Bedarf bei den Patienten und gleichzeitig viele Organe, die nicht verwendet wurden“, berichtet er. Klepetko startete Kooperationen: Zuerst mit Tschechien, dann kurz mit Slowenien, mit Estland und „höchst erfolgreich“mit Ungarn, zuletzt mit Griechenland. Spenderorgane, die dort nicht verwendet werden konnten, wurden an der Wiener Uniklinik transplantiert.
Für Michaela Sommerauer, 43, wurde die Nacht vom 9. auf den 10. Februar 2004 zum Glückstag. Nach der OP hat ihr eine Krankenschwester verraten, dass sie die Lunge einer Sportlerin bekommen hat. Vielleicht geht sie die Treppen zu ihrer Wohnung, die im siebten Stock eines Gemeindebaus liegt, auch deshalb bewusst zu Fuß. Früher, als die Mukoviszidose immer mehr überhandnahm, mussten ihr Bruder oder ihr Freund sie in der Uni die Treppen hoch- und runtertragen.
Trotzdem hatte sie Angst vor der Transplantation, Angst vor dem Tod. Drei Wochen lag sie nach der Operation im künstlichen Tiefschlaf, wollte sich fast aufgeben. Aber ihre Eltern, ihr Bruder und ihr Freund motivierten sie.
Michaela Sommerauer ist dankbar für das österreichische System, dankbar, dass es dadurch mehr Spenderorgane gibt. Und dankbar, dass sie länger leben kann. Einschränkungen werden bleiben: Sie kann keine eigenen Kinder bekommen – nach einer Transplantation ist eine Schwangerschaft ein tödliches Risiko. Sie haben ein Mädchen aus Deutschland aufgenommen. Und sie berät Autisten, einen Vollzeitjob erlaubt ihre Gesundheit nicht. „Im Vergleich zu einem Gesunden bin stark eingeschränkt, aber ich fühl mich super, super gut.“
In Deutschland wird nur Organspender, wer einen entsprechenden Ausweis hat. Das sind nur 36 Prozent der Bevölkerung – obwohl Umfragen zufolge 84 Prozent Organspenden positiv beurteilen. Doch nach den Skandalen der vergangenen Jahre um manipulierte Wartelisten ist das Vertrauen ins System gesunken. Die Zahl der Organspender ist 2017 auf 797 gesunken. Das ist der tiefste Stand seit 20 Jahren. 2018, das ist schon jetzt klar, werden die Zahlen höher sein.
Klepetko sieht in der deutschen Gesetzgebung einen wichtigen, wenn auch nicht den einzigen Grund dafür, dass es weniger Spender gibt als Patienten, die auf ein Organ warten. „Ich möchte nicht sagen, dass die österreichische Gesetzgebung das Gelbe vom Ei ist. Aber sie ist zumindest besser als die deutsche.“
Während in Deutschland in diesen Wochen intensiv über Menschenwürde und Patientenautonoich mie diskutiert wird, darüber, ob man von den Bürgern verlangen kann, dass sie sich mit der Bereitschaft zur Organspende auseinandersetzen, ist das in Österreich kein Thema. Vielleicht setzen sich dort viele Menschen gar nicht mit der Frage auseinander. Schließlich ist nur ein Prozent der Bevölkerung ins Widerspruchsregister eingetragen.
Oder ist es sinnvoller, die Bürger beim Behördengang nach ihrer Bereitschaft zu befragen – etwa, wenn sie einen neuen Personalausweis beantragen? Ähnlich wird das auch in einigen amerikanischen Bundesstaaten gehandhabt, erklärt Klepetko. Mit dem 18. Lebensjahr oder der Wahlberechtigung müssen sich die Bürger entscheiden, ob sie Spender sein wollen oder nicht. Diese Erklärung können sie jederzeit zurücknehmen. Im Rahmen der Kampagne „Donate Life America“wurden 52 Prozent der Bevölkerung als Organspender registriert.
Stefan Dinges ist Medizinethiker und Theologe. Seit mehr als 30 Jahren lebt der Mainzer in Österreich und kann beide Länder gut vergleichen. Seiner Meinung nach geht es in der Debatte um Organspende darum, Solidarität im Gesundheitssystem einzufordern. „Es wird eine gute Balance gewahrt zwischen den Menschen, die auf ein Organ warten, und den möglichen Spendern. Beide wollen ja prinzipiell im solidarischen Gesundheitssystem versorgt werden.“Dinges ist auch der Meinung, dass Transplantationszentren bei der Vergabe klare Regeln brauchen. Außerdem fordert er, an Alternativen zu denken. „Wenn Menschen bis zu einer Transplantation
Er hat die erste Lunge in Österreich transplantiert
Auf eine Niere wartet man hier im Schnitt drei Jahre
am Leben erhalten werden, braucht es einen Plan B für ein würdevolles Sterben, wenn jemand auf der Transplantationsliste steht.“
Dass es keine Debatten um die Widerspruchslösung in Österreich gibt, hängt aus seiner Sicht einerseits mit der traditionell katholischen Prägung zusammen, andererseits mit einer gewissen Obrigkeitshörigkeit. Während Deutsche eher die Bevormundung durch den Staat fürchteten, vertrauten Österreicher auf eine staatliche Lösung.
Und offenbar auf Mediziner wie Klepetko. Der ist fest davon überzeugt, dass sich ohnehin vieles nicht in starre Regeln gießen lässt. Wie beim Patienten von heute Nacht, dem 22-Jährigen, der eine neue Lunge bekommen hat. „Der Patient hat einen extrem flachen Thorax. Eine flache Lunge kommt nur alle heilige Zeiten einmal. Wenn Sie dann nicht diese Chance für diesen Patienten nutzen, dann wird er gnadenlos sterben.“
Für Klepetko aber geht es in der Frage, wer welches Organ bekommt, nicht allein um die Zahlen. Nicht allein um die Zeit, die jemand auf einer Warteliste steht. In Österreich beurteilen die vier Transplantationszentren im Land, welches Organ wohin soll. Dort, sagt der Chirurg, kennt man die Patienten und Umstände genau.
Trotz des österreichischen Modells warten Patienten auf Spenderorgane – wenn auch nicht so lange wie in Deutschland. Bei Herz, Lunge und Leber sind es im Schnitt drei bis vier Monate, bei Bauchspeicheldrüsen sieben Monate. Bei einer Niere liegt die Wartezeit bei dreieinhalb Jahren. Zum Vergleich: In Deutschland dauert das fast doppelt so lang. Und: 2017 standen in Österreich 770 Menschen auf der Warteliste. In Deutschland, das etwa zehn Mal so viele Einwohner hat, waren es 10107.