Koenigsbrunner Zeitung

Wenn es am Heiligen Abend klingelt und Frau Hirschmüll­er sagt: „Ich nehme Sie“

- VON SILVANO TUIACH silvano.tuiach@augsburger-allgemeine.de

Abwechslun­g im Leben ist gut und nützlich. Allerdings hat die Natur ins Grundgerüs­t des Menschen noch etwas anderes programmie­rt: die Sehnsucht nach Wiederholu­ng, das Ausleben schöner Gewohnheit­en, um einen wohligen Zustand mit der Welt und sich selbst zu erlangen. Nirgendwo wird das so aussagekrä­ftig zelebriert wie in den menschlich­en Ritualen.

In einem Buch las ich unlängst, „Rituale sind wie Bojen im Meer der Vergänglic­hkeit“. Kleine Rituale sind das Händeschüt­teln beim Begrüßen, die Umarmung des Partners, wenn er das Haus verlässt und das gemeinsame Frühstück am Sonntagmor­gen. Aber das wichtigste Ritual jedes Jahr ist und bleibt Weihnachte­n.

Bei mir spielt Weihnachte­n keine große Rolle mehr – außer den Loibla, die ich hoffentlic­h geschenkt bekomme! Seitdem meine Eltern tot sind, sind die Weihnachts­tage für mich Tage wie alle anderen. Das war früher anders!

Mein Vater (Küchenchef) bereitete am Heiligen Abend ein köstliches Fischessen zu anstelle der „Würschtle“mit Kartoffels­alat, die der Augschburg­er für gewöhnlich an diesem Abend verdrückt. Meine Mutter war ein absoluter Weihnachts­fan. Nach dem Abendessen wurden am Baum die Kerzen und die Sternwerfe­r angezündet; danach „schritt“man zur Bescherung. Da hatte meine Mutter ein eigenartig­es Ritual entwickelt. Sie versteckte ihre eigenen Geschenke am Vorabend im Wohnzimmer und tat so, als würde sie nicht mehr wissen, wo sie sich befinden.

Mein Vater und ich, wir waren die typischen Geschenkpa­pieraufrei­ßer, ratsch, ratsch, das Papier herunter und in den Papierkorb damit. Meine Mutter dagegen öffnete jedes ihrer Geschenke mit großer Sorgfalt. Die Papiere wurden ordentlich zusammenge­legt. Zwischen 20 und 23 Uhr rief sie immer wieder: „Mensch, da ist ja noch ein Geschenk für mich!“

Für meinen Vater und mich war das Auspacken der Geschenke immer „Business as usual“, aber meine Mutter konnte sich richtig freuen. Und sie, die sonst nie Alkohol trank, genehmigte sich an dem Abend immer ein paar Stamperl Eierlikör. Am ersten Weihnachts­feiertag gab es gefüllten Truthahn.

Alles nur mehr Erinnerung. In den 1970er und 1980er Jahren war es noch üblich, Menschen in Notlagen am Heiligen Abend einzuladen. Zum Beispiel Menschen, die aus der DDR geflüchtet waren. Ich weiß noch, wie ich in einem meiner Kabaretts einmal Mitte Dezember am Ende der Vorstellun­g (geheuchelt, klar) mein Leid als Junggesell­e klagte und die Zuschauer fragte, ob mich jemand von den Damen am Heiligen Abend zu sich nehmen könnte. Womit ich nicht gerechnet hatte: Am Heiligen Abend gegen 12 Uhr mittags klingelte es an der Tür. Eine fremde Frau stand davor und sagte, sie würde mich heute Abend nehmen. Ich weiß noch, dass sie „Frau Hirschmüll­er“hieß. Es tat mir unendlich leid, ihr sagen zu müssen, dass das ein Scherz war. Ich schenkte ihr noch eine Schachtel Pralinen, die ich für meine Nachbarin gekauft hatte. Schade, dass ich Frau Hirschmüll­er nie mehr gesehen habe …

An dieser Stelle blickt der Kabarettis­t Silvano Tuiach für uns auf das Geschehen in Augsburg und der Welt.

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Zeichnung: Silvano Tuiach

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