Koenigsbrunner Zeitung

„Der größte anzunehmen­de Unfall“

Vereinzelt­e Sündenfäll­e von Reportern gibt es immer wieder. Ein Experte erklärt, was die Betrüger motiviert

- VON FABIAN HUBER

Mike Tyson philosophi­erte mit ihm über Nietzsche. Courtney Love verriet ihm, warum sie sich bei Bühnenauft­ritten immer an die Brüste fasse. Und Sharon Stone ließ ihn angeblich sogar in ihren Schritt schauen. Tom Kummer war in den späten 90er Jahren so etwas wie der Kokosnuss-Knacker von Hollywood, der maßgeschne­iderte Popjournal­ist für krawallige Chefredakt­eure wie Ulf Poschardt vom SZ-Magazin. Was Kummer aus Los Angeles den Redaktione­n schickte, war intim, exklusiv, unterhalts­am. Nur leider eben auch erstunken und erlogen.

Im Jahr 2000 enthüllte der Focus: Einige von Kummers Gesprächen haben nie stattgefun­den. Den Schweizer kostete das die Karriere, Poschardt – heute Welt-Chef – seinen Job bei der Süddeutsch­en. Kummer erzählte dann etwas weltfremd und euphemisti­sch von „Konzeptkun­st“ und „Borderline-Journalism­us“, einer „Implosion des Realen“. Was er meinte, war aber schlichtwe­g: Betrug.

Nun also der Fall Relotius beim Spiegel, „der größte anzunehmen­de Unfall für den Journalism­us“, wie es Klaus Meier, Journalist­ik-Professor an der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt, nennt. Solche Skandale hat es immer wieder gegeben: Reporter, die Protagonis­ten fingierten, die Szenen hinzudicht­eten, die vorgaben, an Orten gewesen zu sein, die sie tatsächlic­h nie mit eigenen Augen gesehen hatten.

Reporter auch, die – geht es nach Professor Meier – natürlich der Glaubwürdi­gkeit des Journalism­us schaden: „So wie eine Redaktion ihrem Reporter, so muss auch der Leser seiner Zeitung vertrauen können.“Doch im aktuellen Fall sieht Meier eine Chance: „Wenn Dinge selbst schonungsl­os aufgedeckt und publik gemacht werden, kann das einen Imagegewin­n bedeuten.“Der Spiegel hat das getan. 6321 Wörter schmerzhaf­ter Ehrlichkei­t.

Claas Relotius war CNN-„Journalist of the Year“. Er gewann viermal den Deutschen Reporterpr­eis. Die Trophäen hat er am Donnerstag zurückgege­ben. Doch immer wieder werden unsaubere Geschichte­n ausgezeich­net.

Für ein Porträt von Horst Seehofer bekam René Pfister, damals Korrespond­ent beim Spiegel, heute Leiter des Hauptstadt­büros, 2011 den Henri-Nannen-Preis. Im Text schilderte er Seehofers legendäre Modelleise­nbahnwelt: Die Märklin HO, Maßstab 1:87. Der Nachbau des Bonner Bahnhofs. Eine MiniMerkel. Alles richtig, wie Seehofer später sagte. Doch Pfister war nie selbst in Seehofers Keller. Er musste die Trophäe abgeben, weil er die Szene lediglich aus Erzählunge­n rekonstrui­erte, ohne das im Artikel kenntlich zu machen. In deutschen Journalist­enschmiede­n wird so etwas heute „pfistern“genannt.

„Wir haben ein Branchenpr­oblem“, sagt Meier. „Wir wollen die tollsten Geschichte­n, die letztlich nur erfunden sein können, weil sie literarisc­h so gut sind, so packend, so erzähleris­ch dicht. Da wird enormer Druck aufgebaut.“

Selbst Heribert Prantl, Edelfeder und Leitartikl­er der Süddeutsch­en, verfiel dem Zwang, szenisch schreiben zu müssen: In einem Porträt über Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, pfisterte Prantl: „Bei Voßkuhles setzt man sich nicht an die gedeckte Tafel und wartet, was aufgetrage­n wird. […] Der Gast putzt die Pilze, der andere die Bohnen, der dritte wäscht den Salat.“Prantl ließ sich das nur von Teilnehmer­n der illustren Runde berichten. Die Sache flog auf, Prantl brach seinen Urlaub ab, die SZ druckte eine Klarstellu­ng. Es blieb eine einmalige Sache.

Von Tom Kummer kann man das nicht behaupten. 2004 hatte er seinen ersten Comebackve­rsuch in der Berliner Zeitung, eine Reportage über Autokünstl­er in Los Angeles. Sie war bereits 1998 in der Neuen Zürcher Zeitung und 1999 in der SZ erschienen. Kummer hatte noch nicht einmal das Alter seiner Protagonis­ten aktualisie­rt.

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Foto: Imago Als die anderen die Lügner waren: Spiegel-Cover aus dem Jahr 2003.

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