Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (5)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
In Oberursel verließ er den Zug, wanderte gegen die Saalburg, kümmerte sich schließlich um Ziel und Straße nicht mehr und irrte im Wald umher, ohne auf den Sturm und die zeitweise niederprasselnden Regengüsse zu achten. Wenn es zu arg wurde, suchte er Schutz unter einem Baum oder in einer Holzfällerhütte. Wie traumverloren; aber eben nur „wie“. Wir haben es hier mit keinem Träumer zu tun, in keiner Weise, das muß vor allem festgestellt werden. Er hatte seine fünf Sinne ausgezeichnet beieinander. Er wußte, was er tat, er wurde mit den Dingen ohne viel Federlesens fertig, er schwindelte sich nichts vor, er hatte die Uhr im Kopf und die Zeit in den Fingerspitzen (Beweis dafür: um ein Uhr fünfzehn erschien er pünktlich wie immer, gewaschen und angezogen, am Mittagstisch). Mit einer Sache fertig werden, und zwar mit dem Verstand fertig werden, mit sich ins reine kommen, Ursache und Folge überblicken, Schluß machen können, das war sein
Ehrgeiz, darin übte er sich bei jeder Gelegenheit. Das wollte er auch hier, das trieb ihn hinaus. Aber es mißlang in diesem Fall, die Verwirrung war zu groß.
Am nächsten Abend, bei dem obligaten Gespräch mit dem Vater, merkte er, daß dieser sich anders gab. Es war nicht recht zu ergründen, in welcher Art, auch nicht, was er beabsichtigte; seine Absichten und Zwecke konnten, wenn er sie verbergen wollte, höchstens von einem Hellseher durchschaut werden. Er war freundlicher als sonst, ja, er hatte etwas Zuvorkommendes in seinem Wesen; zum Beispiel reichte er Etzel die Käseplatte zweimal und erkundigte sich lächelnd, ob er sich nicht demnächst die Haare scheren lassen wollte. Sofort war es Etzel klar, daß er von dem Vormittagsausflug und dem Wegbleiben von der Schule wußte und daß es deswegen zu einer jener versteckten Auseinandersetzungen kommen würde, die ihm ein Schrecken waren. Mit Sicherheit konnte man es nicht er- warten, schlimmer noch, wenn es in Schweigen gehüllt als Drohung zwischen ihnen blieb. Das war dann sogenanntes Material. Herr von Andergast legte sichtlich alles darauf an, daß Etzel selbst davon zu sprechen begann; er lud ihn durch seine Milde gleichsam dazu ein; aber je mehr er sich bemühte, je unbehaglicher wurde dem Knaben zumut, er verstummte schließlich und schaute gespannt, fast ohne mit den Lidern zu zucken, in das imponierende, für ihn so unaufschließbare, stets das Gefühl der Unzulänglichkeit in ihm erregende Gesicht auf der andern Seite des Tisches. Es war ihm nicht möglich zu tun, was unter so starkem moralischem Druck, obschon wortlos, von ihm verlangt wurde; er hätte es ja dann gestern schon tun können. Warum er es nicht getan und es überhaupt nicht vermochte, wußte er nicht. Da half kein Mut, kein Argument. Indem er dem Vater in befremdlicher, diesen aber anscheinend gar nicht weiter störender Weise ins Gesicht starrte, zerbrach er sich nur den Kopf darüber, wie er von dem Ausflug so schnell erfahren haben konnte (vom Ordinarius sicherlich nicht; Dr. Camill Raff hatte nicht die Gewohnheit, bei jeder Kleinigkeit Lärm zu schlagen; außerdem schonte er Etzel gern; die Rie hatte sein Heimkommen überhaupt nicht bemerkt), ferner, weshalb er ihm das Geständnis auf lauter Umwegen zu entlocken trachtete, statt einfach zu fragen und ihn zur Rede zu stellen. Das war ihm freilich nicht neu. Einfach war nichts in ihrem gegenseitigen Verhältnis; wenn er darüber nachdachte, wurden sogar die Gedanken verzwickt. Hier muß ich aber, damit in die Beziehung zwischen Vater und Sohn einiges Licht fällt, zuerst erklären, was unter dem „obligaten Gespräch“zu verstehen ist.
Sie sahen einander nur im Hause. Herr von Andergast, beruflich bis zur Überlastung beansprucht, unternahm weder Spaziergänge noch besuchte er Theater und Konzerte. Er zeigte sich ungern in der Öffentlichkeit; außer mit einigen engeren Amtskollegen, zum Beispiel dem Landgerichtspräsidenten Sydow und dessen Familie, pflog er fast keinen gesellschaftlichen Verkehr. Geselligkeit war ihm kein Bedürfnis. Offizielle Veranstaltungen, denen er sich nicht entziehen konnte, empfand er als Last. Einmal im Monat besuchte er seine alte Mutter, die Generalin, wie sie kurz genannt wurde, in ihrem Landhaus draußen in Eschersheim. Die Sonn- und Feiertagsnachmittage waren dem Studium aufgesammelter Akten gewidmet. Mit Etzel täglich zwei Stunden zu verbringen, war jedoch eine Lebenseinrichtung, genau wie das Aktenstudium. Das Programmatische daran, zugleich erzieherische Maßregel, zu verwischen, gehörte zu den gestellten Aufgaben. Es kamen nur die Abendstunden in Betracht. Während des Mittagessens, das ohnehin wegen amtlicher Verhinderung häufig entfiel, waren sie einander geradezu fremd. Die Miene Herrn von Andergasts war verschlossen, hinter der bemerkenswert geistreichen und schön modellierten Stirn haderten noch die Meinungen, die veilchenblauen Augen, in deren Tiefe eine unbewegliche, düstere Glut lag, blickten abweisend. Dazu kam, daß am Mittagessen auch Frau Rie teilnahm, und sosehr Herr von Andergast ihre Nützlichkeit als Vorsteherin des Haushalts anerkannte, so sehr langweilte sie ihn durch ihre „außerdienstliche“Gegenwart. Etzel ging es nicht viel besser mit ihr; er hatte sie gern, unterhielt sich gern mit ihr, aber nur, wenn er mit ihr allein war, in Gegenwart des Vaters und namentlich bei Tisch machte sie ihn nervös bis zum Haß. Sie saß so selbstzufrieden auf ihrem Stuhl, als spende sie sich im stillen ununterbrochen Lobsprüche über die Güte und das Zustandekommen der Mahlzeit nach so vielen Schwierigkeiten, die sie rücksichtsvoll verschwieg. Auch der Appetit, mit dem sie aß, war wie eine stumme Selbstanpreisung; und was sie sagte, war so banal wie die Sätze in einem Lesebuch für Töchterschulen.
Abends blieb sie in ihrem Zimmer. Wenn dann der Tisch abgeräumt war, zündete Herr von Andergast die Zigarre an und entspannte sich durch einen merkbaren Willensakt. Haltung und Miene lockerten sich, niemals bis zum unbeachteten Sichgehenlassen freilich, weit davon; die veilchenblauen Augen hatten aber die verkrochene Glut nicht mehr und erinnerten dann auffallend an die Augen eines naiven jungen Mädchens.
Gewöhnlich begann er mit unverfänglichen Fragen, plänkelte eine Weile, griff ein Thema auf, reizte Etzel zum Widerspruch, fand Vergnügen am Widerspruch, parierte mit fechterischer Gewandtheit, schützte das Überkommene und Bewährte vor verwegenen Reformgelüsten, machte Kompromißvorschläge, war nach hitziger Fehde bereit, eine umstürzlerische Ansicht in der Theorie gelten zu lassen; aber dabei ging es Etzel, obwohl er sich mit Feuer ins Zeug legte, ähnlich wie bei der Vorstellung von der „spielenden“Hand des Vaters, alles war nur wie Spiel, sarkastisches Spiel eines Partners, der aus seiner unvergleichlich stärkeren Position keinen Vorteil ziehen will.