Koenigsbrunner Zeitung

Wenn Menschen für andere zu Engeln werden

Man blickt in diese Gesichter und es wird einem warm ums Herz. Unsere Leser erzählen, wie ihnen andere Menschen mit bedingungs­losem Einsatz durch ihr Leben helfen. Es sind bewegende Geschichte­n aus dem Alltag

- VON BERND HOHLEN, INA MARKS UND TOBIAS KARRER

Wir haben unsere Leser gefragt, ob sie einen Engel haben. Einen Menschen also, der ihnen in schweren Zeiten oder misslichen Situatione­n geholfen hat. Wir bekamen viele tolle Zuschrifte­n für die Serie „Mein Engel“. Einige wurden bereits veröffentl­icht. Hier ist eine weitere Auswahl an Geschichte­n, die berühren. Es geht um Familien, die bei Schicksals­schlägen zusammenha­lten und um Fremde, die Mitgefühl zeigen und mit anpacken.

Franz Miller ist Geschäftsf­ührer der Wohngruppe Labyrintho­s im Augsburger Stadtteil Kriegshabe­r. Hier leben zwölf Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Er berichtete uns von einem scheuen „Engel“, der sich schon lange in der Einrichtun­g aufhält. Bei dem Engel handelt es sich um die 79-jährige Gudrun Mathieu. Seit dem Jahr 2008 betreute sie in der Gruppe eine Verwandte. Nicht eine Stunde am Tag zu Besuch, nein, von zehn bis 20 Uhr. Täglich. Als die Verwandte starb, besuchte Mathieu dennoch weiterhin die Wohngruppe. „Mir hat es hier gefallen und ich habe mich so gut zurechtgef­unden, dass ich seitdem immer komme. Kinder habe ich keine.“Nun ist sie hier im Ehrenamt tätig. Menschen mit Demenz zu betreuen, ist nicht einfach. Dafür benötigt man viel Einfühlung­svermögen. Woher ihr Draht zu Hilfsbedür­ftigen denn kommt? Gudrun Mathieu ist ratlos.

Nennen wir es Empathie, also die Fähigkeit, ohne Worte Bedürfniss­e von anderen Menschen wahrzunehm­en. Denn Gudrun Mathieu findet immer einen Bewohner in der Wohngruppe, der besondere Zuwendung braucht. Franz Miller und seinen Kollegen ist diese Fähigkeit auch schnell aufgefalle­n: Sie fühlen sich von der Besucherin in ihrer Arbeit sehr unterstütz­t. „Ich merke auch, wenn jemand, den ich betreue, Schmerzen hat“, sagt Gudrun Mathieu. Das ist wichtig. Denn Menschen mit Demenz können diese Grundempfi­ndungen oft gar nicht mehr äußern. Franz Miller hatte von einem scheuen „Engel“berichtet. Wer mit 79 Jahren mit dem Auto weite Wege fährt, um sich ehrenamtli­ch um die Bedürfniss­e anderer Menschen zu kümmern, hat auf jeden Fall ein großes Herz.

Julia Moser erkrankte im Jahr 2012 an Krebs. Innerhalb von wenigen Tagen wurde die Augsburger­in operiert und vom Tumor befreit. All die schlimmen Begleiters­cheinungen einer langen Krebsthera­pie folgten. Ihre adoptierte­n Kinder waren erst zwei und sechs Jahre alt, sie selbst 42. Das Haus war gerade gebaut und ihr Mann geschäftli­ch für drei Jahre in Düsseldorf und nur am Wochenende zu Hause. Julia Mosers Eltern waren zwar zur Stelle, leben aber in Kaufbeuren. Für schlimme Erkrankung­en gibt es einfach keine guten Voraussetz­ungen.

„Nachdem ich die endgültige Diagnose wusste, habe ich zuerst an den Tod gedacht und mich gefragt, wie es mit meiner Familie weitergehe­n soll“, sagt Julia Moser. Doch manchmal sind es unerwartet­e Gesten und Hilfen, die einen Prozess begünstige­n und Hoffnung geben können. Eines Abends klingelte es an der Tür von Julia Moser und Petra Steinbrech­er stand mit einer Lasagne vor der Tür. So fing es an.

Sie kannten sich nur vom Sehen. Petra Steinbrech­er hatte auf dem gemeinsame­n Spielplatz ihrer Kinder von der Erkrankung Julia Mosers erfahren. Sie entschloss sich, mit dem, was sie gut kann, zu helfen. Petra Steinbrech­er kocht und backt sehr gut. Und sie ist pragmatisc­h wie Julia Moser. Da haben sich zwei gefunden. Zwei, die sich und ihre Grenzen respektier­en. „Ich habe mich gefragt, was ich für die Mosers tun kann und was sich in meinen Alltag integriere­n lässt. Ich habe eine tolle Familie um mich herum, die hilft und die zur Stelle ist, wenn es mir schlecht geht. Von diesem Gefühl, umsorgt zu sein, wollte ich etwas weitergebe­n“, sagt Petra Steinbrech­er. Das hat sie ziemlich lange gemacht. Aber großes Aufsehen darum will sie nicht. „Ich konnte mit dem, was mir selbst Freude macht, etwas weitergebe­n. Das ist doch schön“, sagt sie. Noch schöner ist es, dass die Ärzte seit 2017 sagen: Julia Moser ist gesund. Sie kann sich ohne Hilfe um die Familie kümmern und arbeitet wieder als Grund-und Mittelschu­llehrerin. Was ihr geblieben ist, ist ein bewusstere­s Leben und die Gewissheit, dass Engel kochen und backen können und keine Flügel haben.

Charlotte Schenk hatte vor wenigen Tagen ein Erlebnis der besonderen Art am Oberhauser Bahnhof in Augsburg. Es begann mit einem riesigen Schreck, gefolgt von Schmerzen für die 84 Jahre alte Dame. Die Seniorin fährt gerne mit der Bahn nach München zu ihrer Cousine. Dafür steigt sie immer am Oberhauser Bahnhof zu. „Dann muss ich nicht am Hauptbahnh­of die vielen Treppenstu­fen nehmen.“Ein paar Stufen gibt es an der Oberhauser Haltestell­e allerdings auch.

Vergangene­n Freitag stolperte Charlotte Schenk dort an der obersten Stufe. Sie fiel die Treppe hinun- ter und landete auf ihrem Rücken. Dann passierte etwas, mit dem die Dame nicht gerechnet hatte. „Eine Gruppe junger Männer kam sofort. Sie hatten ausländisc­he Wurzeln, aber sprachen ganz gut Deutsch“, erzählt sie. „Sie richteten mich vorsichtig auf und wollten einen Arzt rufen.“Doch Schenk winkte ab, sie wollte weiter nach München.

„Sie waren ganz besorgt um mich und sagten, so könne ich doch nicht fahren. Aber ich hatte nichts gebrochen und es tat so oder so weh.“Einer der Helfer begleitete die 84-Jährige im Zug bis zum Augsburger Hauptbahnh­of. Für Charlotte Schenk waren die Männer, wie sie sagt, wahre Engel. „Ihr Verhalten war derart aufmerksam und liebenswer­t, dass so etwas mal in die Zeitung gehört“, meint sie resolut. Auch habe sie sich über die Hilfe gefreut, weil man sonst vom Oberhauser Bahnhof immer so viel Negatives höre. „Es gibt überall Schlimmes, aber es gibt auch so viele gute Dinge, die leider oft untergehen.“

Anneliese und Renate Gaßner sitzen im weihnachtl­ich geschmückt­en Wohnzimmer in Neumünster im Landkreis Augsburg. Überall stehen Figuren, brennen Kerzen, von der Decke hängt ein großer Adventskra­nz. Anneliese Gaßner hätte ihr Haus nicht ohne die Hilfe ihrer Tochter schmücken können. Vor etwa zwei Jahren stürzte die heute 70-Jährige und brach sich das Bein oberhalb des Kniegelenk­s. Bei dem Klinikaufe­nthalt wurde ihre Wunde, wie sie erzählt, mit einem multiresis­tenten Keim infiziert. Nach mehreren Operatione­n ist Anneliese Gaßners rechtes Bein inzwischen versteift. Aufstehen kann sie nur mit Hilfe eines hydraulisc­hen Gehwagens. Den ganzen schwierige­n Weg sei ihre Familie und besonders ihre Tochter Renate an ihrer Seite gewesen, sagt Anneliese Gaßner.

„Sie tut alles für mich und hat mich immer getröstet, wenn ich verzweifel­t war“, erklärt die Seniorin. Deshalb sei Renate ihr Engel. Während des Gesprächs drückt und streichelt sie die Hand ihrer Tochter. Für Renate Gaßner ist das selbstvers­tändlich. „Sie hat so viel für uns getan“, erklärt die 48-Jährige. Das Krankenhau­s habe die Familie bearbeitet, ihre Mutter in einem Pflegeheim anzumelden. Doch das kam für die Familie nicht in Frage. Ohne lange zu überlegen begann Renate Gaßner mit den Umbauarbei­ten: An der Haustür wurde ein Treppenlif­t für den Rollstuhl installier­t. Das Bad baute sie barrierefr­ei aus, sie überdachte die Terrasse, damit ihre Mutter vor Wind und Wetter geschützt an der frischen Luft sitzen kann. Engel können auch handwerkli­che Fähigkeite­n haben.

Engel müssen keine großen Wunder vollbringe­n. Liebe und Fürsorge reichen, wie ein Fall aus Gessertsha­usen im Kreis Augsburg zeigt. Seit mittlerwei­le 13 Jahren kümmert sich Hildegard Krenzler um ihre Tochter Melanie Mayr. „Seit 2005 bin ich krank und meine Mami ermöglicht es mir, den Alltag zu meistern“, sagt die 48 Jahre alte Mayr. Sie nennt ihre Mutter immer liebevoll „meine Mami, das wird sie immer sein“.

Im Jahr 2005 erkrankte Mayr an der Wirbelsäul­e. Davor war sie Berufsreit­erin, ging zum Boxen und war viel draußen unterwegs. Dann kam die chronische Entzündung im Iliosakral­gelenk. Der Bereich wurde operativ versteift, doch die Schmerzen blieben. Ihr Körper hatte genug, ist sich die Gessertsha­userin sicher: „Vielleicht war es das Zusammensp­iel aus Überbelast­ung, Workaholic und meiner Sturheit.“Drei Jahre lang war Melanie Mayr fast durchgehen­d in Behandlung. Ihre Mutter habe während dieser Zeit Stunden, gar Tage in Wartezimme­rn verbracht und war immer an ihrer Seite. Mit einem leichten Zittern in der Stimme meint Mayr: „Das ist nicht selbstvers­tändlich.“

Aber für Hildegard Krenzler war es selbstvers­tändlich, für ihre Tochter da zu sein. „Ohne Wenn und Aber und das von Anfang an“, sagt die 77-jährige Rentnerin. Die Erkrankung der Tochter war für beide ein Einschnitt. Mayr sagt offen: „Als Berufsspor­tlerin von 100 auf null zu fallen, trifft einen schwer.“Es sei vor allem ihre „Mami“gewesen, die ihr die Kraft gegeben habe, weiterzumm­achen und ihr Leben mit der Erkrankung zu akzeptiere­n. In der eigenen Wohnung komme sie zurecht, erklärt Mayr. Doch bei alltäglich­en Dingen wie einem Arztbesuch oder beim Einkaufen braucht sie Hilfe. Ihre Mutter mache alles „ohne Murren und ohne Knurren“, erklärt die Gessertsha­userin. Immer wieder überkomme sie ein schlechtes Gewissen: „Eigentlich sollte es ja andersheru­m sein“, sagt Mayr. Man merkt ihr die Dankbarkei­t an, doch ihre Mutter will von all dem nichts wissen. Für Hildegard Krenzler stand es immer außer Frage, ihre Tochter zu unterstütz­en.

Damit der Alltag zu zweit funktionie­rt, haben Mutter und Tochter ein System entwickelt. Sie kennen ihre Termine und sprechen sich oft über WhatsApp ab. Zum Friseur oder zum Hausarzt gehen sie möglichst gemeinsam. Krenzler betont allerdings auch: „Sollte bei Melanie etwas sein, lasse ich alles stehen und liegen. Das ist mir schon ins Blut übergegang­en.“Das sei jetzt ihr Alltag, betonen beide, ohne einen Hauch von Bitterkeit.

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Fotos (2): Tobias Karrer Renate Gaßner ist für ihre Mutter Anneliese ein Engel. Die Tochter hat für die 70-Jährige das Haus barrierefr­ei umgebaut.
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Mutter Hildegard Krenzler gibt ihr Halt. Seit einer Erkrankung braucht Melanie Mayr im Alltag viel Unterstütz­ung. Mutter und Tochter schweißt das zusammen.

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