Weihnachten in Geborgenheit für zehn Kinder
Engagement Es gibt im Augsburger Land über 160 Mädchen und Jungen, die nicht mit ihren Eltern leben können. Wie die Pflegefamilie einspringen kann, was die neuen Eltern erleben und warum Weihnachten so besonders ist
Meitingen-Herbertshofen Heute, am Heiligen Abend, da wird es bei Bettina (52) und Roberto (57) Mühleisen so sein, wie in vielen Familien: Am Vormittag wird der Baum geschmückt, später kümmert sich die Mutter um das traditionelle Abendessen mit Rauchfleisch und Würstchen. Am frühen Abend werden die Kinder nach oben geschickt, erst, wenn das Christkind mit seinem Glöckchen bimmelt, dürfen sie zur Bescherung wieder herunterkommen. Dennoch ist Familie Mühleisen eine ganz besondere Familie. Zehn Kinder gehören zu den Eltern: drei eigene, längst erwachsen, und sieben Pflegekinder. Die fünf Jüngsten wohnen noch zu Hause, doch an Heiligabend werden sie alle da sein, auch die ehemaligen Schützlinge der Familie. „Es sind alles meine Kinder“, sagt Bettina Mühleisen. Für den kleinen Lars* wird es erst das zweite Weihnachtsfest überhaupt sein: Er kennt nichts anderes als seine Mama und seine Familie hier.
Das ist nicht bei allen Kindern so. Bettina Mühleisen erzählt von einem Erlebnis mit ihrer Pflegetochter Michelle. Als die vier Jahre alt war, musste sie von ihrer leiblichen Familie in ein Kinderheim umziehen. Dort blieb sie, bis sie acht war. Nach den ersten Tagen bei Familie Mühleisen fragte sie eines morgens ihre neue Mama, ob sie denn immer noch Dienst hätte. „Michelle war es einfach nicht gewohnt, eine feste Bezugsperson zu haben, die immer ist. Ich finde, so etwas soll kein Kind erleben müssen“, erklärt Bettina Mühleisen, warum sie sich um so viele Kinder kümmert.
Fast 162 Kinder im Landkreis leben aktuell in Pflegefamilien, erläutert Elena Asam vom Amt für Jugend und Familie im Landratsamt. Es könnten noch mehr sein. Mit der Kampagne „Endlich Familie“will das Landratsamt neue Pflegefamilien gewinnen. Dabei müsse der Entschluss dazu, eines oder mehrere Kinder aufzunehmen, reiflich überlegt sein, rät die Fachfrau: „Pflegekinder kommen auf Zeit und stellen oft hohe Anforderungen an die To- leranz und Geduld ihrer neuen Eltern.“Zudem sollten Pflegeeltern bereit sein, einen Kontakt der Kinder zu ihren leiblichen Eltern zuzulassen und möglichst zu unterstützen. Freilich muss genügend Zeit da sein, sich den Bedürfnissen des Kindes zu widmen. Und was man freilich auch braucht: genügend Platz.
So wie bei den Mühleisens: Sie leben inzwischen in einem ehemaligen Gasthof im Meitinger Ortsteil Herda
bertshofen, oben gibt es fünf Kinderzimmer, sogar acht wären möglich. Als die eigenen Kinder noch klein waren, kam das erste Pflegekind in die Familie – was so gar nicht geplant war. Nur kurz sollte Bettina Mühleisen auf einen Sechsjährigen aufpassen, dessen Mutter sich bei einer Arbeitsstelle vorstellen wollte. Sie kam nicht mehr wieder, um ihr Kind abzuholen.
Familie Mühleisen wandte sich ans Jugendamt, der Bub durfte als Pflegekind bleiben. Aus dem kurzen Besuch wurden zehn Jahre. So ging es dann weiter: Die ersten Kinder zogen aus, weitere Pflegekinder kamen hinzu. 25 seien es im Laufe der
Jahre gewesen, die, zumeist geplant, nur kurz blieben. Nicht jeder Pflegeplatz ist auf Dauer ausgerichtet, erläutert Elena Asam. Manchmal benötigen Kinder nur kurz einen Platz, etwa wenn ein Elternteil ins Krankenhaus muss. Oder für den Übergang, wenn die Situation im leiblichen Elternhaus aus dem Ruder läuft und Kinder sofort herausgenommen werden müssen. Zehn Kinder sind heute die Kinder der Mühleisens, eben jene, die immer wieder kommen, wie jetzt an Weihnachten. Oder gar nicht mehr gehen wollen, wie Pflegesohn Mirco: Er blieb einfach bei seinen neuen Eltern, bis er 24 war und im Leben seinen eigenen Platz gefunden hatte. Zu sehen, wie sich die Kinder entwickeln und schließlich „mit beiden Beinen im Leben stehen“, das ist ein Grund für die Mühleisens, sich um so viele Kinder zu kümmern. Das ist nicht immer einfach. Am Anfang sei jedes Kind mehr oder weniger bereit, sich in die Familie mit ihren Regeln einzufügen, sagt Bettina Mühleisen. „Aber nach zwei oder drei Jahren packen sie dann ihr Päckchen aus“, hat die vielfache Mutter erfahren. Sie sagt: Es gibt nichts, was sie nicht schon mit ihren Kindern erlebt hat. Und dennoch: „Ich will keines von ihnen missen.“Pflegetochter Jacqueline habe als junge Erwachsene einmal zu ihr gesagt: „Mama, was ich dir für Sorgen gemacht habe“– der Dank und die Anerkennung, die hinter diesen Worten stecken, das sei doch viele Mühen wert.
Zudem, so die zupackende Frau: „Kinder halten ja auch jung.“Der Kleinste, Lars, ist gerade einmal eindreiviertel. Er wird wohl das letzte Kind der Familie sein. Denn Bettina Mühleisen hat noch etwas anderes vor. Fast immer hat sie gearbeitet, wenn Lars drei Jahre alt wird, will sie wieder zurück in ihren Verwaltungsberuf. „Kinder leben bei uns auf Zeit, sowohl die eigenen, wie auch Pflegekinder. In dieser Zeit sollen sie aber alles haben, was sie brauchen“, so die Mutter. Die eigene Arbeit jedoch, das sei auch für sie ein Ausgleich zu den Anforderungen des Familienlebens.
*Namen der Kinder geändert.
Einer blieb bei seinen neuen Eltern, bis er 24 war