Leonardo da Vinci und die blühende Fantasie
Superstar Wenn der Name des Malers der „Mona Lisa“erklingt, sind Publikum, Wissenschaft und Kunsthandel in Habacht-Stellung. Das Genie weckt höchste Erwartungen. Nicht jede davon wird auf Dauer eingelöst
Augsburg Wahrscheinlich ist er der bekannteste Alte Meister weltweit: Leonardo da Vinci. Weil er Ikonen der Renaissance geschaffen hat, die ins öffentliche Leben heute gleichsam eingebrannt sind, jährlich millionenfach im Original besucht und betrachtet werden und aus dem Hinterkopf ohne Probleme abrufbar sind: die Mon(n)a Lisa im Louvre, die Abendmahl-Wandmalerei in Mailand, die Proportionsstudie des vitruvianischen Menschen (Venedig), die zauselige, ihm als Selbstporträt zugeschriebene RötelZeichnung aus Turin. Ikonen vergleichbar mit Michelangelos David und Raffaels zwei Brüstungsengeln auf der Sixtinischen Madonna. Sie allesamt erscheinen wie von selbst vor dem imaginären Auge, wenn das Gespräch auf sie kommt.
Und das Gespräch wird auf die Lisa, das Abendmahl, den vitruvianischen Menschen und den Zausel 2019 kommen, weil es dafür Anlass gibt, nämlich Leonardos 500. Todestag am 2. Mai – Gedenktag der Gedenktage des Jahres. Ja, und dann war da auch noch der spektakuläre sogenannte „Salvator mundi“, der es unter dem Namen Leonardo da Vinci 2017 zum teuersten jemals versteigerten Kunstwerk gebracht hat – und zwar mit exorbitantem Abstand. Für sage und schreibe 450 Millionen US-Dollar wechselte er bei Christie’s New York den Eigentümer, obwohl Urheberschaft, Provenienz, originale Farbsubstanz und Restaurierungsmaßnahmen eher im Dunkeln liegen. Auch dieses Werk: großzügig nur zugeschrieben.
Jedenfalls gilt: Wann immer – wie mehrfach in den vergangenen Jahren geschehen – ein angeblicher Leonardo da Vinci auftauchte, sind Publikum, Wissenschaft und Kunsthandel elektrisiert: Der Maler gilt als absoluter Künstler, seine Werke werden als absolute Werte angesehen. Was in den vergangenen Jahren ebenfalls mehrfach passierte: die aufgetauchten angeblichen Leonardos waren nach eingehender Prüfung wieder abzuschreiben. Sein nur schmales malerisches OEuvre will trotz heftiger, aufwendiger Versuche einfach nicht auf die Menge seiner erhaltenen großartigen Zeichnungen anwachsen – rund 6000. Und wir erinnern uns – innerlich schmunzelnd oder äußerlich grinsend – an jene hübsche junge Dame mit Zopf im Profil, die als Leonardo eingestuft wurde – bis ein Müllmann 2015 erklärte, er habe die hübsche junge Dame mit Zopf 1978 mit alten Pigmenten auf altem Pergament porträtiert, das Modell sei eine Kassiererin aus dem Coop-Supermarkt von Bolton in Nordengland gewesen, im Übrigen ein „rechthaberisches Miststück“. Damit konnte auch dieser sensationelle „Leonardo-Fall“, bei dem viel Geld im Spiel war, beigelegt werden.
Woher aber rührt der extreme Wunsch auf originale Leonardos? Nur wegen der Mon(n)a Lisa, die ja auch deswegen so bekannt wurde, weil sie 1911 mal geklaut worden war? Nun, Leonardo wird nicht nur als Genie gehandelt, sondern gleich als Universalgenie.
In gewisser Weise stimmt das ja auch: Er war nicht nur ein herausstechender Maler und Zeichner, er war auch ein Philosoph, (Staats-)Mechaniker, Ingenieur, Erfinder, Forscher, Anatom und Architekt. Er inszenierte höfische Feste und beherrschte die Laute. Als die Wissenschaft noch lange nicht die Hoffnung auf ein perpetuum mobile ad acta gelegt hatte, spottete er schon über diese Idee – und setzte seinen Lebensweg fort, bei dem er allen Dingen auf den Grund zu gehen versuchte. Seine Lieblingsfrageworte: Warum, woher, wodurch? So war ihm auch klar, dass die Pest mangelnde Hygiene zur Voraussetzung hatte – nur einer von vielen Sachverhalten, denen nachzugehen er seinen Tagesablauf unterordnete: Man sagt, dass Leonardo – übrigens ein vegetarischer Linkshänder, der in Spiegelschrift schrieb – alle paar Stunden ein Nickerchen einlegte und so seinen Schlafbedarf auf extreme zwei Stunden pro Tag reduzierte. Herausgekommen sind dabei – durch präzise Beobachtung der Natur und unter Rückgriff von Ideen der Antike – Ideen zu Tauchanzügen, Seildrehmaschinen, zu Bohrer und Kugellager.
Andererseits gilt auch: Leonardo verzettelte sich, führte ein wenig zielgerichtetes Leben, malte sehr langsam, mitunter – wie bei den Wandbildern in Florenz sowie Mailand – mit unerprobten, untauglichen Techniken und häufig auch nicht bis zur Fertigstellung eines Gemäldes. Auch würde man heute den Begriff des Universalgenies – sowie des Humanisten – kaum auf einen Menschen anwenden, der gleichzeitig auf folgenden beiden Hochzeiten tanzt: Vervollkommnung von Festungsarchitektur (Verteidigung) und Steigerung der Tötungseffektivität von Waffen (Rüstung). Der 1452 nahe Vinci, also 30 Kilometer vor Florenz, geborene Leonardo machte Vorschläge zur Beschleunigung und Vergrößerung von Waffengewalt – bis hin zum sogenannten Sensenwagen, der im Vorbeifahren Soldaten häckselt.
Möglicherweise ist das Sich-Verzetteln beziehungsweise der allzu selbstkritische Abbruch einer begonnen Arbeit auch das Problem jenes „Salvator mundi“-Gemäldes, das 2017 Auktionsgeschichte schrieb – und derzeit mutmaßlich in einem Fundus von Abu Dhabi seiner Enthüllung und Präsentation harrt. Ob dies 2019 geschieht, in Leonardos Gedenkjahr, nachdem es 2018 nicht geschah, wie vernehmlich angekündigt? Dass der Meister an dem Gemälde, speziell an der delikaten, lichtspiegelnden Kristallkugel mitgearbeitet haben könnte, bestätigen auch große Skeptiker dieser Leonardo-Zuschreibung. Aber Ungereimtheiten und Unkenntnisse von Provenienz, Originalfarben und Restaurierung belegen das Werk dennoch mit immer neuen Zweifeln.
Jedenfalls illustriert der „Salvator“mit seiner seit 1958 abenteuerlichen Karriere-Geschichte auf vortreffliche Weise, was geschieht, wenn Vermutungen beziehungsweise Fantasien um das Genie Leonardo übersprudeln. Die filmreife und mindestens kriminell angehauchte Ereignis-Abfolge geht so: 1958 für 45 (!) englische Pfund versteigert, „schlief“das Gemälde (66 mal 45 Zentimeter) erst einmal bis 2005 in US-Privatbesitz. Dann erwarb es ein Kunsthändler-Konsortium für angeblich 10000 Dollar und ließ es restaurieren. 2011 sprachen sich in London mehrere Experten für eine Authentizität des „Salvator“aus – vor dem Hintergrund der geschwindelten Zusicherung, dass das Gemälde
Die Supermarkt-Kassiererin war kein Modell Leonardos
Zwei arabische Kronprinzen konkurrieren um Christus
nicht zum Verkauf stehe. So kam es auch in eine große Londoner Leonardo-Retrospektive. Doch 2013, nachdem es erfolglos wegen seines schlechten Originalmaterials auch der Berliner Gemäldegalerie angeboten worden war, ging es überraschend durch die Vermittlung von Sotheby’s in den Besitz des Kunsthändlers Yves Bouvier, diesen weltweiten Betreiber von (Kunst-)Zollfreilagern. Kostenpunkt nun bereits 77,5 Millionen Dollar – wobei im Christus-Antlitz Leonardos berühmtes Sfumato schon zum Verwaschenen neigt.
Bouvier reichte das Bild umgehend für etwa 127,5 Millionen Dollar an den russischen Milliardär Dimitri Rybolovlev weiter, der noch heute mit Bouvier vor Gericht über das enorme Vermittlungshonorar streitet. Übrigens ist Rybolovlev Geldgeber und Präsident des Fußballvereins AS Monaco – wobei gegen ihn wegen Bestechung und Einflussnahme ermittelt wird und der monegassische Justizminister Narmino deshalb bereits zurücktreten musste. Dieser Rybolovlev also, tätig im Offshore-Finanzwesen, ließ dann das Werk 2017 bei Christie’s für umgerechnet gut 381 Millionen Euro versteigern – Weltrekord.
Möglicherweise – vorerst letzte Pointe der Geschichte – haben sich bei der Auktion die Kronprinzen von Saudi-Arabien und Abu Dhabi gegenseitig hochgesteigert, weil beide glaubten, ihr Gegner sei ein Bieter aus Katar. Der Prinz aus SaudiArabien erhielt den Zuschlag – und wenig später wohl heftigen Gegenwind zu Hause am muslimischen Hof für den Erwerb eines ChristusPorträts. Er soll den Erlöser der Welt an Abu Dhabi gegen eine Yacht verscherbelt haben.
Was all dies belegt? Der Wunsch auf Teilhabe am Mythos Leonardo da Vinci ist ungebrochen hoch und weltweit virulent. Der Mann fasziniert seit Jahrhunderten. Er ist eine originäre Marke.