Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (45)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
In dem Tagebuch, das Elli um jene Zeit geführt hat, ist dies als auffallende Wahrnehmung ausdrücklich vermerkt. Später äußert sich Anna gegen Leonhart geringschätzig, die Schwester fürchte wohl, sie werde Geld von ihr verlangen; aber die Furcht könne er seiner Frau getrost ausreden, eher ließe sie sich die Hand abhacken, als daß sie was von Elli annähme; so verabscheuenswert ihr ein geiziger Mann sei, ein geiziges Weib erscheine ihr wie eine Mißgeburt.
Das giftige Wort wirkt. Er kann sich einer ärgerlichen Bemerkung gegen Elli nicht enthalten. Eine seiner besten Eigenschaften ist Generosität, unleidlich ist ihm ängstliches Taschenzuhalten. Elli weist die Zumutung, sie wolle möglichen Geldforderungen der Schwester vorbeugen, ruhig zurück. Warst du’s denn nicht, erwidert sie, der Annas damenhafte Neigungen immer am schärfsten mißbilligt, ja sich darüber mokiert hat, daß ihr Auftreten so wenig im Einklang mit ihrer sozialen
Stellung ist, der ihre Ambitionen übertrieben gefunden hat? Es ist wahr. Leonhart schweigt. Er hat in der Tat keine Gelegenheit versäumt, sich über das „Fräulein Habenichts“, das sich aufspielte wie eine Prinzessin und dem keine Gesellschaft vornehm genug war, lustig zu machen.
Wie sich die Dinge später entwickelten, ist allerdings zu vermuten, daß er sich damit nur rächen wollte für die hochmütige oder doch gleichgültige Haltung Annas gegen ihn. Sie war anfangs überzeugt, daß er Elli nur des Geldes wegen geheiratet und von vornherein auf das Vermögen des verstorbenen Papierfabrikanten spekuliert hat. Sollte sie ihn vielleicht deshalb besonders achten, den jungen Mann, der schamlos in das vergoldete Joch einer alten Frau gekrochen ist; Kurz nachdem er sich wegen des Kindes Hildegard an sie gewandt, hatten sie eine seltsame Auseinandersetzung. (Es scheint, daß der Entschluß, an ihr weibliches Mitgefühl zu appellieren und sie zu seiner Vertrauten zu machen, ganz plötzlich über ihn kam, ohne jedes Vorspiel, ohne daß er wissen konnte, ob sie ihn anhören, ob sie ihm nicht nach den ersten Worten die Tür weisen würde; möglicherweise wollte er sie überrumpeln, seit langem schon heimlich gereizt durch ihre Kälte, wobei ihm gar nicht bewußt wurde, was er riskierte. Er war eben ein Triebmensch und ließ sich treiben.) Nun, damals, bei dem zweiten oder dritten Beisammensein wegen des Schicksals der kleinen Hildegard, kam es auch wegen seiner Ehe zu einer Aussprache. Ihr häßlicher Verdacht, dessen Geständnis er ihr abpreßte, erbitterte ihn leidenschaftlich. In seiner Rechtfertigung war ein unüberhörbarer Ton von Glaubhaftigkeit. Womit verteidigt sich ein Mann unter dem Gewicht solchen Vorwurfs? Er wird auf die selbstlose Freundschaft hinweisen, die ihm von der Frau entgegengebracht worden ist, er wird sagen: einen Mann so zu verstehen, notabene einen, der sich selbst noch nicht gefunden hat, ist nur eine gereifte Frau fähig, deren Charakter gestählt ist, deren Geist keinem billigen Blendwerk mehr unterliegt; er wird den inneren Frieden preisen, den ihm diese Verbindung gegeben hat, das Gefühl der Verläßlichkeit, wie es den Kapitän eines havarierten Schiffes erfüllt, wenn er das Steuer in einer festen Hand weiß. Aber man muß tiefer gehen, das sind Gemeinplätze; sie enthalten nichts von Ellis kräftiger Persönlichkeit, ihrem empfindlichen Herzen, ihrem unbestechlichen Urteil über Menschen, ihrem Opfermut, dem Reichtum ihrer Seele. Leonhart gerät in schwärmerischen Eifer, Anna Jahn lauscht mit gesenktem Kopf. So viel Vorzüge bei einer andern sind fast eine Herabsetzung für die, die sie rühmen hört, erst recht, wenn es die eigene Schwester ist. Er erklärt, was er mit dem havarierten Schiff gemeint hat (bezeichnend für ihn, daß er so gern die Gelegenheit ergreift, von seinem gefährdeten Charakter zu sprechen, allerdings zumeist recht schönfärberisch, sich sozusagen als eine problematische Natur aufspielend); bevor er Elli getroffen, war er ein Spielball in der Hand beliebiger Menschen, er hätte sich eigentlich jeden Augenblick aufgeben können, betört von seinem Wahn, entmutigt bis zum Überdruß; purer Zufall, daß es nicht geschah, nur das freche Vertrauen in seinen Stern hielt ihn manchmal oben. Wenn er bis jetzt die große Liebe nicht kennengelernt und seine Ehe mit Elli in dieser Hinsicht einen wissentlichen Verzicht bedeutet, so hat er doch dafür anderes gewonnen, Edleres vielleicht, Haltbareres jedenfalls. Anna stutzt. Sie kann sich eines ironischen Lächelns nicht erwehren. Die Liebe nicht kennengelernt (die „große“Liebe, als ob’s eine große und eine kleine gäbe!), was heißt das? Abgesehen davon, daß es eine Primanerfloskel ist, sieht es wie ein Köder aus, obschon kein sehr schlauer. So fängt man begehrliche Närrinnen, deren Begierde nur Naschhaftigkeit ist und denen man Resignation als Lockspeise hinwirft. Immerhin, die schmerzlich klingende Scheinwahrheit einer Beichte, deren Kern eine schmackhafte Lüge bildet, ist ein Rezept, das selten ohne Wirkung bleibt.
Aber Anna geht nicht so leicht ins Garn. Sie sieht den Schwager wohl mit etwas andern Augen an, doch sie traut ihm nicht sehr. Er ist so beredt, er argumentiert so geschickt, und er ruht nicht, sie von einem Vorurteil abzubringen, von dem sie nicht mehr bekehrt zu werden braucht: sie glaubt ihm, daß er Elli nicht aus habsüchtigen Motiven geheiratet hat, so dumm ist sie nicht, daß sie ein oberflächliches Urteil nicht aufgibt, wenn sie eines Besseren belehrt wird. Wozu also die beständigen Besprechungen, das Bestreben, ihrer habhaft zu werden, die vielen Fragen, das viele Zurredestellen? Sie hat schließlich seinen Wunsch erfüllt, ist mit einer Pflegerin in die Schweiz gereist, hat das Kind geholt und hat es zu ihrer Freundin Pauline Caspot gebracht. Diese Mrs. Caspot ist eine Arzttochter aus Düsseldorf, sie hat einen kleinen englischen Kaufmann geheiratet, der kurz nach der Hochzeit starb und sie fast mittellos zurückließ, worauf sie in Hertfort, ein paar Meilen nördlich von London, ein Heim für stellenlose Gouvernanten einrichtete und ein ganz anständiges Auskommen dabei fand. Anna korrespondierte regelmäßig mit ihr wegen des Kindes, gab genaue Anweisungen über die Erziehung (die alleinstehende Frau hatte sich des verlassenen Wesens mit Eifer angenommen) und schickte in Leonharts Auftrag jeden Monat das Geld für die Verpflegung, das er ihr für den Zweck übergab. Das alles erfordert natürlich bestimmte Abmachungen und Vereinbarungen, besonders da Ellis brüsk ablehnende Haltung es Anna gewissermaßen zur Pflicht macht, dem in praktischen Dingen so ungeschickten Mann beizustehen. Aber er wird nicht müde, davon zu reden, jede Woche muß sie einmal mit ihm in die Stadt, um ein Geschenk, ein Kleidchen, ein Spielzeug für das Kind zu kaufen, er bittet sie, ihm Photographien zu verschaffen, er will einen englischen Maler bestimmen, Hildegards Porträt zu malen, er beschwört Anna, dem Kind niemals ihre Teilnahme zu entziehen, er sagt: Du bist doch nun seine wahre Mutter, und ähnliches.