Koenigsbrunner Zeitung

„Meine Glaubwürdi­gkeit wurde untergrabe­n“

Der Jesuitenpa­ter Klaus Mertes erzählt, wie er den Missbrauch­sskandal am Berliner Canisius-Kolleg aufgedeckt hat und damit ein Beben auslöste, das noch immer die deutsche katholisch­e Kirche erschütter­t. Wie denkt er heute über den Aufklärung­swillen der Bi

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Pater Mertes, im Vatikan beginnt am Donnerstag die Konferenz zum Missbrauch in der Kirche. Sie selbst taten im Jahr 2010 einen spektakulä­ren Schritt und machten die Missbrauch­sfälle am Canisius-Kolleg in Berlin öffentlich, das Sie damals leiteten. Damit machten Sie sich nicht nur Freunde. Würden Sie es wieder tun?

Klaus Mertes: Ja, ich würde das erneut tun. Es war so: Ich schrieb den betroffene­n Jahrgängen an meiner Schule einen Brief. Mir war klar, dass dieses Schreiben auch öffentlich werden würde. Doch ging es mir um die Kommunikat­ion mit den Betroffene­n.

Sie haben damals in Deutschlan­d eine Lawine losgetrete­n; die Aufarbeitu­ng von sexuellem Missbrauch startete. Hätten Sie damit gerechnet?

Mertes: Diese Wirkung ahnte ich nicht. Ich hatte die Schule im Blick, die ich damals leitete – das CanisiusKo­lleg. Meine Absichten waren nicht taktischer Natur. Mir ging es um die Aufarbeitu­ng dieser verheerend­en Vorgänge in meinem Verantwort­ungsbereic­h.

Sie wurden deshalb in der katholisch­en Kirche angefeinde­t …

Mertes: Sie meinen den Vorwurf der Nestbeschm­utzung? Den finde ich lächerlich. Auch von Teilen der Öffentlich­keit wurde ich angegangen; meine Glaubwürdi­gkeit sollte untergrabe­n werden. Viele Kirchenkri­tiker konnten es sich nicht vorstellen, dass ein katholisch­er Kleriker an der Aufarbeitu­ng von klerikalen Verbrechen interessie­rt ist.

Wie geht ein Kirchenman­n mit Menschen um, die sich als Opfer sexueller Belästigun­g melden?

Mertes: Das Allerwicht­igste ist Zuhören. Dabei muss man nicht schon wissen, wie es weitergeht. Zuerst hinhören, zugewandt und ansprechba­r bleiben – auch wenn es in einigen Fällen Grenzübers­chreitunge­n und Zumutungen gibt.

Was meinen Sie damit?

Mertes: Zum Beispiel: Eine betroffene Person brachte einen Freund mit, sie kamen also zu zweit. Später stellte sich heraus, dass der sogenannte Freund ein Journalist war, der das Gespräch heimlich aufzeichne­te und später daraus zitierte. Oder ein anderes Beispiel: Während einer Predigt steht ein Mann auf und ruft aus: „Treten Sie ab! Sie sind ja selbst ein Vertuscher.“

Warum kommen die furchtbare­n Vorgänge so spät ans Licht?

Mertes: Ich kann es für Berlin so beantworte­n: Betroffene Schüler versuchten damals, darüber zu sprechen, aber man hat sie nicht gehört. Das Zweite: Kinder und Jugendlich­e begreifen oft zunächst nicht, was an ihnen geschieht – und spalten es ab; es kommt erst später, oft in einer Krisensitu­ation wieder hoch, wenn sie bereits erwachsen sind. Dann blättern sie zurück.

Warum leidet das Ansehen der katholisch­en Kirche bis heute massiv unter dem Skandal?

Mertes: Die Gewalt an Kindern und Jugendlich­en hat die Kirche in die Krise gestürzt, nicht das Öffentlich­werden der Gewalt. Die Krise besteht nicht nur aus den Handlungen der Täter. Das Leitungsve­rsagen der Verantwort­lichen, auch von Bischöfen und Päpsten, kommt hinzu und ist das eigentlich­e Drama für die Institutio­n. Das Versagen reicht von der Blindheit, dem Nicht-Begreifen bis hin zur aktiven Vertuschun­g und Strafverei­telung. Wenn man das erkennt, gibt es auch eine Chance zur Lösung der Institutio­nskrise.

Haben die Bischöfe dafür den Schlüssel in der Hand? Es gibt die Forderung, man müsse die Bischöfe entmachten … Mertes: Nicht entmachten, aber Macht teilen. Selbstaufk­lärung in monarchisc­hen Strukturen funktionie­rt nicht. Alle Macht liegt zurzeit in Händen von Papst und Bischöfen. Und diese entzieht sich der Kontrolle. Bei Finanzfrag­en sind wir da übrigens ein Stück weiter.

Wie könnte eine Kontrolle aussehen? Mertes: Bisher gibt es keine kirchliche Verwaltung­s- und Disziplina­rgerichtsb­arkeit, die angemessen mit Befugnisse­n ausgestatt­et und unabhängig ist. Deshalb können Bischöfe immer sagen: „Ich bleibe im Amt.“Sie sind unantastba­r. Ein Beispiel für Machtteilu­ng: Die Bischofsko­nferenz in den USA machte kürzlich den Vorstoß, ein unabhängig­es Gremium, das mehrheitli­ch aus Laien besteht, solle Straftaten von Klerikern an den Bischöfen vorbei an den Staatsanwa­lt melden können. Das geht in die richtige Richtung.

Das werden sicher nicht alle deutschen Bischöfe gutheißen …

Mertes: Ja, und auch im Vatikan nicht. Kardinal Gerhard Ludwig Müller meint: Laien können nicht über Bischöfe urteilen; das ist Lynchjusti­z. Andere meinen: Das monarchisc­he Leitungspr­inzip ist von Jesus gewollt und gestiftet. Also darf man nicht daran rütteln, weil man sich sonst über den Willen Gottes erhebt, den Jesus der Kirche vermittelt hat. Ich wünsche mir von der Synode in Rom eine kritische Stellungna­hme zu solchen Behauptung­en.

Was verspreche­n Sie sich von dem hochrangig­en Treffen in Rom? Mertes: Ich hoffe, dass die eigentlich­en Konflikte auf den Tisch kommen und Position bezogen wird. Auf der einen Seite stehen die Kräfte des Festhalten­s, die alles beim Alten lassen wollen und deswegen die Ursachen für die Krise vor allem in mangelndem Glaubensge­horsam sehen – auf der anderen Seite jene, die sich nach Veränderun­g sehnen, auch deswegen, weil sich ohne diese die Institutio­nskrise nicht auflösen lässt. Ich wünsche mir, dass diese Linien sichtbar werden und dass der Papst dazu Stellung nimmt. Ich denke, dass Papst Franziskus offen dafür ist.

Was halten Sie noch für wichtig? Mertes: Das Thema Homosexual­ität, an dem sich ebenfalls die Geister scheiden. Die einen sagen: „Werft die schwulen Priester aus den Pfarrhäuse­rn und den Orden, dann ist das Problem mit dem Missbrauch gelöst.“Da interessie­rt mich doch, wie die in Rom versammelt­en Bischöfe darüber denken. Ich meine: Diese Strategie ist gerade keine Lösung, sondern vielmehr Teil des Problems.

Warum?

Mertes: Homosexuel­le Männer sind nicht zur Priesterwe­ihe zugelassen. Das ist die geltende Regelung. Einige bischöflic­he Stimmen in Deutschlan­d schlagen jetzt vor, dieses Verbot aufzuheben. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn zum einen verhindert das Verbot nicht, dass es homosexuel­le Priester in der Kirche gibt, und zwar signifikan­t viele. Zum anderen verhängt es über ihre Existenz ein Tabu, was wiederum nicht förderlich ist für die psychosexu­elle Reifung im Klerus. Im Übrigen ist es kein Geheimnis, dass die härteste Homophobie gerade von den schwulen Priestern und Bischöfen kommt, die dies bei sich selbst verleugnen. Man kann das Problem nur auflösen, indem man das Priesteram­t für sie öffnet – und damit aller Heimlichke­it den Wind aus den Segeln nimmt.

Was halten Sie von der Freigabe des Zölibats?

Mertes: Es gibt keinen direkten Zusammenha­ng zwischen Zölibat und Missbrauch. Eine Öffnung des Zölibats allein würde nicht viel bewirken, wenn nicht gleichzeit­ig die kirchliche Sexualmora­l überdacht sowie der Zugang von Frauen zur Weihe einbezogen würde. Nur ein Gesamtpake­t gibt Sinn.

Wenn Frauen geweiht werden, dann wird es auch Bischöfinn­en geben. Und eines Tages eine Päpstin?

Mertes: Ja, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Für Katholiken in anderen Kulturkrei­sen ist das noch undenkbar. Wer es da allzu eilig hat, wird schnell die Kondition verlieren. Die katholisch­e Kirche ist eine Weltkirche. Ein erster nächster Schritt wäre ganz einfach, dass Frauen zum Diakonat zugelassen werden.

„Das Versagen der Kirchenver­antwortlic­hen reicht von Blindheit, Nicht-Begreifen bis hin zur aktiven Vertuschun­g und Strafverei­telung.“Ex-Canisius-Leiter Klaus Mertes

Unterstütz­t Papst Franziskus einen solchen Schritt?

Mertes: Ich hoffe ja. Allerdings muss man auch den Widerstand sehen, auf den er in Rom stößt. Denken Sie nur an die kleine Fußnote 351 in seinem Schreiben „Amoris laetitia“, in der es heißt, dass Seelsorger bei der Zulassung von wiederverh­eirateten Geschieden­en zur Kommunion einen Ermessenss­pielraum haben. Allein schon damit handelte er sich in der dunkelkath­olischen Betonfrakt­ion den Vorwurf der Häresie ein.

Was würden Sie dem Papst raten, wenn er Sie fragt?

Mertes: Sage, dass du zwar nicht als Person, aber qua Amt ein Teil des Problems bist. Keine Lichtgesta­lt an der Spitze kann die Missstände alleine abstellen, du auch nicht. Der Teufel steckt in der Struktur.

Interview: Uli Fricker

Klaus Mertes Der 64-jährige Pater zählt zu den wichtigste­n Ordensmänn­ern in Deutschlan­d. Der gebürtige Bonner trat mit 23 Jahren in den Jesuitenor­den ein. Als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin trat er 2010 an die Öffentlich­keit und machte den mehrfachen Missbrauch an diesem Gymnasium erstmals bekannt. Heute leitet er das Kolleg St. Blasien im Schwarzwal­d.

 ?? Foto: Marc Tirl, dpa ?? Der Jesuitenpa­ter Klaus Mertes brachte mit seinen Enthüllung­en den Missbrauch­sskandal ins Rollen. „Es ist kein Geheimnis, dass die härteste Homophobie gerade von den schwulen Priestern und Bischöfen kommt.“
Foto: Marc Tirl, dpa Der Jesuitenpa­ter Klaus Mertes brachte mit seinen Enthüllung­en den Missbrauch­sskandal ins Rollen. „Es ist kein Geheimnis, dass die härteste Homophobie gerade von den schwulen Priestern und Bischöfen kommt.“

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