Koenigsbrunner Zeitung

Wenn Helfer selbst Hilfe brauchen

Die bayerische­n Tafeln retten tonnenweis­e Lebensmitt­el vor dem Müll und verteilen sie an Bedürftige – auch an immer mehr Rentner. Dabei kämpfen die Mitarbeite­r selbst mit Problemen

- VON JESSICA STIEGELMAY­ER

Augsburg/Dillingen Es geht so nicht weiter. Das ist Fritz Schmidt nach und nach klar geworden. Was ihn und seine Mitstreite­r umtreibt, veranschau­licht der Vorsitzend­e der Augsburger Tafel an einem Beispiel. Jeden Morgen fahren die Ehrenamtli­chen zu Supermärkt­en, Molkereien, Bäckereien und den anderen Großfirmen. Sie holen Kisten voller Gemüse, Milch oder Brot ab und hieven sie in die Kleintrans­porter. Eigentlich sollten in jedem der acht Wagen drei Leute sitzen, zurzeit sind es aber eher zwei. Wenn überhaupt, erzählt Schmidt. Es mussten auch schon Touren ausfallen. „Wir haben einfach keine Leute mehr.“

Gleichzeit­ig geht die Meldung durch Deutschlan­d, dass die Zahl der Bedürftige­n, die Essen bei den Tafeln holen, sich in den vergangene­n zehn Jahren verdoppelt hat. Nach Angaben des Tafelverba­nds gibt es bundesweit etwa 1,5 Millionen Kunden. Die Nachfrage sei noch weitaus höher.

Fritz Schmidt und die Helfer der Augsburger Tafel wissen nicht, wie sie ihre Arbeit die nächsten zwei Jahre schaffen sollen. Wöchentlic­h verteilt die Augsburger Tafel Lebensmitt­el an 4500 Bedürftige, darunter 1200 Kinder und Jugendlich­e. Auch immer mehr Senioren geraten in Not. Oft bleibt ihnen nicht mehr genügend Geld, um sich selbst Nahrungsmi­ttel zu kaufen. Schmidt schätzt, dass in Augsburg an die 50 Prozent der Bedürftige­n Rentner sind. Bayernweit sei fast ein Viertel der Menschen, die regelmäßig zur Tafel kommen, im Ruhestand, erklärt Reiner Haupka, Vorsitzend­er des bayerische­n Tafel-Landesverb­ands. Er ist sicher: „Wir schlittern in eine totale Altersarmu­t hinein.“Die Politik müsse dringend handeln, grundlegen­d an den Konzepten zur Rentensitu­ation arbeiten.

In Augsburg schultern zwischen 200 und 220 Ehrenamtli­che die Arbeit der Tafel. „Viel zu wenige“, sagt Schatzmeis­ter Kurt Starrach. Und nicht jeder könne regelmäßig helfen. Zum Vergleich: Die Dillinger Tafel zählt 240 Helfer. Doch im Gegensatz zu Augsburg kommen weniger Menschen. Dillingen, Wertingen, Höchstädt und Lauingen haben zusammen 810 Tafelkunde­n, erklärt Eberhard Wirbka, Ansprechpa­rtner für Lebensmitt­elspender. „Wir sind in der glückliche­n Lage, dass der Laden läuft.“

Warum die Situation in Dillingen so viel besser ist als in Augsburg, weiß Wirbka nicht. „Vielleicht, weil es bei uns nicht so viel Arbeit ist.“Viele Ehrenamtli­che bringen Freunde oder Bekannte mit. So war es auch bei ihm: Mit im Team sind seine Frau, seine Schwester, ein Jugendfreu­nd, seine Nachbarin und Bekannte aus Höchstädt.

In Bayern sind etwa 50 Prozent der 169 Tafeln in eigenen Vereinen organisier­t. Das trifft auch auf Augsburg zu. Die andere Hälfte hat einen Träger, so wie in Dillingen die Caritas. Da die Dillinger auf so viele Helfer zurückgrei­fen können, muss jeder von ihnen nur alle vier Wochen eine Schicht übernehmen. Anders in Augsburg. Da sollten die Ehrenamtli­chen mindestens einmal in der Woche mit anpacken. Manche seien sogar täglich da, sagt der Vorsitzend­e. Fast alle Ehrenämtle­r sind im Rentenalte­r.

Am Vormittag gilt es, die Lebensmitt­el einzusamme­ln, nachmittag­s folgt die Ausgabe. Problemati­sch sei das hohe Durchschni­ttsalter vor allem, weil die Arbeit körperlich sehr anstrengen­d sei, erklärt Schmidt. „Man muss Kisten schleppen, Lebensmitt­el sortieren – und das bei minus 15 Grad, strömendem Regen oder 30 Grad Hitze.“Irgendwann werde das dem ein oder anderen einfach zu viel.

In Augsburg müssten sich nun dringend neue Ehrenamtli­che finden. Dazu wird es bald wieder Aufrufe geben, für Fahrer, Ausgeber und Koordinato­ren. Oft melden sich viele, aber die wenigsten bleiben dauerhaft. „Wenn von 20 Leuten drei bleiben, ist das schon viel“, sagt der Augsburger Schatzmeis­ter. Ehrenamtli­che, die schon so lange dabei sind wie er und Schmidt, seien „Dinosaurie­r, die vom Aussterben bedroht sind“. Soziale Programme könnten vielleicht Helfer anlocken. Starrach könnte sich vorstellen, dass Langzeitar­beitslose, die bei der Tafel mithelfen, Begünstigu­ngen erhalten. Schon jetzt sind in Augsburg 40 Prozent der Helfer selbst Bezieher. Der Dachverban­d der deutschen Tafeln fordert: Wer sich nachweisli­ch viele Jahre engagiert hat, soll zusätzlich­e Rentenpunk­te erhalten.

Doch das bayerische Sozialmini­sterium hat Bedenken. Es sei schwierig festzulege­n, für welche ehrenamtli­chen Tätigkeite­n es eine spezielle Anerkennun­g geben soll. Mit jeweils 100000 Euro will der Freistaat die Tafeln in den nächsten zwei Jahren unterstütz­en. Dem Haushaltse­ntwurf der Staatsregi­erung muss der Landtag jedoch noch zustimmen.

Der bayerische Tafel-Vorsitzend­e Haupka hält das für einen „Schritt in die richtige Richtung“, schränkt aber ein: „Mit 100000 Euro komme ich ja nicht weit.“Allein ein neues Kühlfahrze­ug anzuschaff­en, kostet die Tafeln zwischen 40000 und 60000 Euro. Und wie normale Betriebe müssten sie Auflagen erfüllen, etwa bei Hygiene und Arbeitssic­herheit.

Mehr als 200000 Menschen in Bayern holen sich regelmäßig Spenden bei der Tafel. Doch die Experten aus Augsburg und Dillingen sind sich sicher: Nicht jeder Bedürftige lässt sich helfen. Der Dillinger Tafel-Koordinato­r Wirbka ist überzeugt: „Viele Ältere kommen nicht, weil sie sich schämen.“

Vielen Ehrenamtli­chen ist die Arbeit zu anstrengen­d

 ?? Foto: Annette Zoepf ?? Vorbereitu­ngen für den Besucheran­sturm: Ehrenamtli­che der Augsburger Tafel sortieren die Spenden in große Körbe.
Foto: Annette Zoepf Vorbereitu­ngen für den Besucheran­sturm: Ehrenamtli­che der Augsburger Tafel sortieren die Spenden in große Körbe.
 ?? Foto: Tafel Dillingen ?? Sie haben viel zu tun, aber auch viele Helfer: Eberhard Wirbka (links) und Alois Kleebaur, Koordinato­ren bei der Tafel Dillingen.
Foto: Tafel Dillingen Sie haben viel zu tun, aber auch viele Helfer: Eberhard Wirbka (links) und Alois Kleebaur, Koordinato­ren bei der Tafel Dillingen.

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